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Zerrissene Normalität

Uwe Dziuballa betreibt mit seiner Familie in Chemnitz das einzige koschere Restaurant im Osten. Was es bedeutet, sich als Jude nicht zu verstecken – ein Besuch.

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Von Tobias Wolf

Das Selbstverständnis steht auf der letzten Seite der Speisekarte. Eigentlich ist es die erste Seite, weil hebräisch von rechts nach links gelesen wird. „Wir sind deutsche Juden. Wir sind in Deutschland nicht nur zu Besuch!“ Sätze, die selbstverständlich erscheinen und es doch nicht immer sind. Nicht unter normalen Bedingungen, weil jüdisches Leben im Alltag kaum eine Rolle spielt. Erst recht nicht, nachdem das koschere Restaurant Schalom im Zentrum von Chemnitz Ziel einer Attacke war. Nach einer Demonstration des rechten Bündnisses Pro Chemnitz hatten Vermummte, vermutlich Neonazis, das Lokal angegriffen.

Uwe Dziuballa ist nach einer Rechten-Demo in Chemnitz von Neonazis überfallen worden. Es ist nicht der erste Übergriff auf sein koscheres jüdisches Restaurant im Chemnitzer Zentrum. Auch wenn er sich nicht beirren lässt, manchmal beschleichen auch ihn Zwe
Uwe Dziuballa ist nach einer Rechten-Demo in Chemnitz von Neonazis überfallen worden. Es ist nicht der erste Übergriff auf sein koscheres jüdisches Restaurant im Chemnitzer Zentrum. Auch wenn er sich nicht beirren lässt, manchmal beschleichen auch ihn Zwe © kairospress

Knapp vier Wochen später sitzt Uwe Dziuballa vor dem Schalom, dass er seit 18 Jahren mit Bruder und Mutter betreibt. Ringsherum stehen schmucke, frisch sanierte Altbauten. Eine Nachbarschaft wie aus dem Bilderbuch. Bürgerlich, sauber, friedlich. Mittendrin der große Mann mit der Glatze, weißem Hemd und bordeauxroter Schürze mit Goldstickerei. Zwei sich kreuzende Weingläser, die zusammen einen Davidstern bilden, das Markenzeichen des Schalom. Das hebräische Wort steht für Unversehrtheit und Heil, für Gesundheit, Wohlfahrt, Sicherheit, Frieden und Ruhe. Am 27. August herrschte kein Frieden.

Denn Angriffe und Beschimpfungen sind eine Seite einer zerrissenen Normalität, die vielleicht nur Juden in dieser Form kennen. „Judensau, hau ab aus Deutschland!“, hätten die Vermummten an jenem Montag gerufen, Steine, Flaschen und eine Eisenstange geworfen, sagt der 53-Jährige. „Ein Stein hat getroffen.“ Das Ganze dauerte nur Sekunden, die Schmerzen blieben drei Tage. Er hat noch versucht, die Angreifer zu fotografieren.

Nach der Attacke steht das Telefon nicht mehr still. Anrufer nennen ihn Lügenonkel. „Weil wir ja montags offiziell geschlossen haben, stimme das alles nicht.“ Er hat versucht, zu erklären. Dass fast jeden Montag eine Feier in geschlossener Gesellschaft stattfinde oder Veranstaltungen des von ihm gegründeten Kulturvereins, der auch Schalom heißt. An jenem Abend gab es einen Vortrag über die Arisierung jüdischer Firmen im Dritten Reich im Schalom. Aber das interessiert nicht, man will schimpfen. „Ein Polizist hat zu mir gesagt: ,Wissen Sie, es gibt ja in der Bevölkerung Leute, die schon so nicht in der Woche arbeiten, noch viel weniger können die sich vorstellen, dass man am Ruhetag arbeitet. Das passt nicht in deren Vorstellungswelt.‘“

Dziuballa breitet die Arme aus, zuckt mit den Schultern. „Ich glaube, die Membran zwischen Zivilisation und Barbarei ist sehr dünn und teilweise sehr durchlässig“, sagt er. „Hier am Karl-Marx-Kopf stehen dann auf einmal Leute neben Leuten, die den Hitlergruß zeigen, die aber nur aus Wut etwas ausdrücken wollten.“ Die sollten irgendwann merken, dass sie da nicht hingehören. Die alle als Nazi zu beschimpfen, bringe nichts. „Die sagen sich sonst irgendwann, dann bin ich eben einer.“ Er spricht schnell und mit ausladender Gestik. Die Hände gehen in die Luft, dann nach vorn, wenn er etwas genauer erklären will, oder pochen zur Bestätigung mit der Kante vehement auf die Tischplatte.

Die kleine runde Brille lässt Uwe Dziuballa ein wenig wie Mahatma Gandhi aussehen, nur kräftiger. Wie jener würde Dziuballa seine Religion nie verstecken. Er trägt Kippa, in den Fenstern stehen Menora, siebenarmige Messingleuchter. Mitten im Gastraum ein Regal mit Büchern und israelischen Weinen. An einer Wand das Klavier, auf dem Dziuballas Bruder immer spielt, an einer anderen hängen Promi-Fotos.

Hinter der holzgetäfelten Bar blitzen Weingläser im Regal, daneben ein Sederteller für das Pessachfest, an dem Juden sich an den Exodus, den Auszug der Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten erinnern. An einem Waschbecken neben der Bar können sich religiöse Gäste mit einem Kupferkrug rituell die Hände waschen.

Dziuballa versucht, mit aller Kraft ein Stück jener Normalität zu schaffen, die er in den USA erlebt hat. „In Manhattan ist man als Jude wie ein Stück Zucker, das sich im Kaffee auflöst, etwas völlig Normales.“ Rund eine Million Juden leben in New York, in Chemnitz etwas mehr als 1 000, die meisten Spätaussiedler aus der früheren Sowjetunion. Aus den Lautsprechern dringt Swing-Musik nach draußen, aus der Küche weht der Duft von Lammragout herüber. Die Speisekarte vereint nahöstliche, mitteleuropäisch-jiddische und osteuropäisch-jüdische Speisen. Tscholent (Rinderragout), Latkes (Kartoffelpuffer), Blinzes (Pfannkuchen), Couscous und Gefilte Fisch. Alles koscher zubereitet, Fleisch und Milchprodukte dürfen sich niemals begegnen.

Noch ist kein Gast da. Aber jeder Tisch ist gebucht. „Es ist durchaus ein Risiko, ohne Reservierung vorbeizukommen.“ Dziuballa grinst. Wie zur Bestätigung klingelt das Telefon. „Tut mir leid, wir haben heute keinen Tisch mehr frei.“ Er weiß, was das Lokal für eine Bedeutung hat und warum es viele Stammgäste gibt.

Seit 2000 gibt es die Schalom-Familie: die Dziuballas, Köche, Kellnerinnen und Aushilfen, mit den Brüdern Uwe und Lars Ariel an der Spitze. Die Mutter ist die gute Seele, die die alten Rezepte kennt. Lars Ariel Dziuballa hat in Israel die Religion studiert. Er ist es, der Gästen die Speisen erklärt. Uwe Dziuballa ist der Kaufmann. Ihren Glauben haben die Brüder erst im Erwachsenenalter entdeckt.

Weit über Chemnitz hinaus sind sie bekannt, weil das Schalom das einzige koschere Restaurant im Osten ist, die Nächsten gibt es in Berlin und Prag. Viele Gäste kommen von außerhalb, auch, weil es im Gourmet-Führer Guide Michelin steht. „Mir hat mal einer am Strand von Tel Aviv mein eigenes Restaurant empfohlen.“ Darauf ist Uwe Dziuballa nicht nur ein bisschen stolz. Es geht im Schalom nicht um den Holocaust, um Auschwitz und die bleierne Erinnerung an das Dritte Reich. Uwe Dziuballa will niemandem ein schlechtes Gewissen machen, nur jüdische Kultur und Lebensart vermitteln. So selbstverständlich, wie es eben möglich ist. Das ist die andere Seite der zerissenen Normalität.

Den Mann scheint nichts zu erschüttern. Aber aufregen kann auch er sich. Nicht so sehr wegen der Attacke auf sein Restaurant, eher über die Gesamtsituation, auch mit Blick auf die Ereignisse rund um den Tod von Daniel H. in Chemnitz. „Ich kann viele verstehen, die punktuell einen Zorn mit sich tragen, nicht Wut.“ Er unterscheide das. „Zorn auf eine Situation kann ein Motor sein, sich zu artikulieren. Dann muss ich den Zorn aber auch formulieren können, um dem anderen die Möglichkeit zu geben, mich zu verstehen.“ Auch wenn Verstehen noch nicht Begreifen sei. Ein Dialog sei nur sinnvoll, wenn der andere die Gegenargumente anhöre. „Sonst lebe ich nur in meiner Monolog-Welt, in der ich der absolute Maßstab bin.“

Wenn Uwe Dziuballa innerlich bebt, ziehen sich die Hände in den Schoß oder vor die Brust zurück, greifen die Finger der Linken den Ring mit dem Davidstern an der Rechten, drehen ihn hin und her. Das Beben wird unterbrochen. Ein junger Mann geht vorbei, winkt. „Grüße“, ruft Dziuballa zurück. Ein Nachbar. Dann geht das Beben weiter. Es seien nicht nur vermeintlich schlechter Gebildete und Situierte anfällig. „Ich hab Menschen kennengelernt, die unzufrieden sind und AfD wählen, aber einen tollen Dienstwagen, ein Haus und eine Zweitwohnung an der Küste haben, wo ich sage: Mensch, willst du mit 'nem Porsche zu deinem Bett fahren oder was soll denn noch werden?“

Und dann sind da die besonders Lauten. „Egal welcher Zorn sich formuliert, ich verstehe nicht, dass manche alles kaputt machen wollen, um es neu aufzubauen“, sagt Dziuballa. „Wenn ich die Schreihälse hier bei den Demos in Chemnitz sehe, kann ich mir nur schwer vorstellen, dass von denen ein Finanzminister kommt oder ein Schriftsteller, dessen Roman ich gern lesen würde oder einer, der ein ordentliches Auto zusammenbauen kann.“ Er will nicht arrogant klingen. „Bildung ist nicht nur ein Schulabschluss, sondern auch weiche Dinge wie Anstand, Mitgefühl, Verständnis, aber je älter ich werde, desto weniger Antworten habe ich auf das Leben.“

Sein Selbstverständnis wird das nicht zu sehr ankratzen. Aber vielleicht die Zweifel ein wenig verstärken, die sich über Jahre eingeschlichen haben. Uwe Dziuballa will den Gedanken beiseitewischen. Vielleicht auch, weil er viel erlebt hat und immer auch ein bisschen gegen sich kämpfen musste. Er ertappe sich manchmal bei der Frage nach dem Sinn für all das, was er tut. Er, der geborene Karl-Marx-Städter, der den ersten Teil seines Lebens mit den Eltern in Jugoslawien lebte, weil der Vater für den DDR-Außenhandel arbeitete. Dessen Familie in Belgrad blieb, als er unter den gütigen Augen der Großeltern die Jugend in der Heimat verbrachte. Der eine Reichsbahn-Lehre machte, Ingenieur für Elektrotechnik, Elektronik und Arbeitssicherheit wurde, als NVA-Hubschrauberpilot Rettungseinsätze bis zur Wende flog, um noch mal von vorn anzufangen. Mit einer Bank-Lehre in Köln, von der aus es in die USA ging.

„Ich war bei einer Heuschrecke“, sagt Dziuballa über den Ex-Arbeitgeber, einen Finanz-Broker in New York. 1993 war das. Ein Job mit allem, was man sich so vorstellt: Montblanc-Füller, Dreier-BMW, ein Büro im World Trade Center, das er Jahre später im Fernsehen zusammenbrechen sah. Erfolg, Geld, Karriere, Statussymbole waren erstrebenswert. „Der damalige Uwe Dziuballa hat nichts mit dem von heute zu tun, das sind zwei komplett verschiedene Menschen“, sagt er nachdenklich. „Diesen ganzen Mist braucht kein Mensch.“

Die Religion schlich sich an, und das hat mit dem Tod des Vaters zu tun, der 1994 an Krebs starb. „Das war der Wendepunkt in meinem Leben“, sagt er. Vielleicht ist es Reue, Wiedergutmachung für Streite und unterschiedliche Sichtweisen, die Dziuballa antrieben. „Wenn der Tod meines Vaters mit gerade einmal 57 irgendeinen Sinn hatte, vielleicht den, mich aus dieser ganzen Geldscheiße heraus zu holen.“ Die Familie stand vor der Frage: „Gehen oder bleiben?“ Die USA und Israel sind ein Thema, doch die Mutter wollte nicht mehr fort. Sie war ihr ganzes Leben unterwegs.

Uwe Dziuballa beginnt, Kulturveranstaltungen zu organisieren und Sprachkurse für jüdische Spätaussiedler. 1998 gründet er den Verein Schalom, 2000 eröffnet die Familie das gleichnamige Restaurant. Nebenbei Pressearbeit für ein Krankenhaus, die Bewerbung um einen Stadtratssitz, die Kandidatur für das Oberbürgermeisteramt und natürlich immer wieder der Verein. „Ich wollte alles immer ausprobieren, damit ich weiß, worüber ich rede.“ Das jüngste Projekt: ein Stadtplan mit dem Titel „Jüdische Spuren in Chemnitz“. Die Idee, klar, hatte er, und viele haben dabei mitgeholfen.

Früher hat er Übergriffe dokumentiert, nun zählt er sie nicht mehr. Hunderte Drohanrufe, zerstörte Blumenrabatten, Hakenkreuze an der Fassade, abgerissene Briefkästen, Lampen und Möbel kaputt, Schweineblut an der Tür, ein Schweinekopf mit Davidstern im Eingang. Grölen davor, Hitlergruß, Parolen wie „Jude verrecke“ oder „Auschwitz ist nicht vorbei“. Der Sachschaden summierte sich auf über 40 000 Euro. Es gab Anrufe, bei denen für 88 Personen am 20. April Tische bestellt wurden. Die acht steht für H im Alphabet, die Kombination für „Heil Hitler“. Wie hält man das aus? „Ich wäre eher beleidigt, wenn an Führers Geburtstag nicht irgendetwas kommen würde.“ Sein Sarkasmus ist auch Selbstschutz.

Eine Frau hält mit ihrem Fahrrad neben der Terrasse, vielleicht Mitte fünfzig, Pony-Frisur, Brille, Typ Bildungsbürgerin. Uwe Dziuballa fragt: „Wollen Sie zu mir?“ Die Dame nickt. „Ich würde gern für eine größere Gruppe reservieren, so zehn Leute. Sind Sie Montagvormittag da, um das zu besprechen?“ Dziuballa zückt sein Handy, blättert durch den Kalender. „Ja, klappt, wunderbar, danke.“ Das Telefon klingelt, diesmal will jemand einen Gutschein kaufen und verschenken. Kaum hat er aufgelegt, ist der nächste dran, will reservieren.

Seit 2013 laufe es richtig gut. Ein Jahr zuvor war die Familie mit dem Lokal aus der Bahnhofsgegend hergezogen. „Wir gehören hier dazu, manchmal habe ich das Gefühl, wir sind ein bisschen die Kiezkneipe geworden“, sagt er. „Obwohl der Begriff Kiez nicht zu Chemnitz passt und Kneipe nicht zum Restaurant, aber ich sehe beides als Kompliment, weil junge Leute auch mal so vorbeikommen auf eine Falafel oder ein Bier oder nur zum Schwatzen.“ Das Wort Restaurant sucht man an der Fassade vergebens, einfach nur Schalom. So könne jeder für sich interpretieren, was es für ihn ist. „Jüdische Gastronomie. Punkt.“ Ein Stück Normalität. Und Schalom heißt Frieden.