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Locker, lässig, Lindy Hop

Ein Tanz, erfunden in den Zwanzigerjahren, wird in Sachsen wiederentdeckt. Das liegt nicht nur an der Swing-Musik, sondern auch an der Gemeinschaft. Und am Flirtfaktor.

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© Ronald Bonß

Von Nora Domschke

Anzug und Hut sind Jens Rahnfeld nicht wichtig. „Ich lebe Lindy Hop jeden Tag, das geht auch in Jeans.“ Der Dresdner steht hinter der Bar in seiner Swing-Tanzschule, die er seit Anfang 2017 im Zentralwerk in Dresden-Pieschen betreibt. Der 40-Jährige fährt mit der Hand über seinen rechten Arm, der von oben bis unten tätowiert ist. Seine Leidenschaft für den Swing drücke er nicht mit Klamotten der 1930er-Jahre aus – sondern mit Bildern, die für immer seinen Körper prägen: am Handgelenk Louis Armstrong mit seiner Jazztrompete, Billie Holiday am Mikro auf der Schulter, auf dem Oberarm Django Reinhardt, der Gitarre spielt. Zu sehen sind nicht nur Größen der Jazzmusik – auch die Bilder eines Lindy Hop tanzenden Pärchens im Savoy Ballroom in Harlem und eines Flugzeugs teilen sich den engen Platz auf dem Arm von Jens Rahnfeld.

Lindy Hop: Alter Tanz, junge Fans

Jens Rahnfeld und Angelika Haase lernten sich vor zehn Jahren beim Lindy Hop kennen.
Jens Rahnfeld und Angelika Haase lernten sich vor zehn Jahren beim Lindy Hop kennen.
Bis heute verbindet sie die Leidenschaft für die getanzte Swingmusik.
Bis heute verbindet sie die Leidenschaft für die getanzte Swingmusik.
Hinter solchen Sprüngen steckt viel Übung.
Hinter solchen Sprüngen steckt viel Übung.
Alter Tanz, junge Fans: Katharina Quandt und Jakob Franke beim Tanztee in der Dresdner Saloppe.
Alter Tanz, junge Fans: Katharina Quandt und Jakob Franke beim Tanztee in der Dresdner Saloppe.
Gute Schwingungen gibt es auch bei Jens Rahnfeld und Leonora Veronesi.
Gute Schwingungen gibt es auch bei Jens Rahnfeld und Leonora Veronesi.
Für immer: Jazzsängerin Billie Holiday ziert den Oberarm von Jens Rahnfeld.
Für immer: Jazzsängerin Billie Holiday ziert den Oberarm von Jens Rahnfeld.
Pilot Charles Lindbergh wurde zum Namensgeber für den Lindy Hop.
Pilot Charles Lindbergh wurde zum Namensgeber für den Lindy Hop.

Es ist nicht irgendein Flugzeug, es ist jene Maschine, mit der Charles Lindbergh im Mai 1927 den ersten Nonstopflug von New York nach Paris über den Atlantik machte. Wohl mehr durch Zufall wurde der Pilot damit zum Namensgeber eines Tanzstils. Denn die Legende sagt, dass der Überflug am Abend des 21. Mai im Savoy Ballroom gefeiert wurde. Weil die Zeitungen „Lucky Lindy Hops the Atlantic“ titelten, wurde aus dem Tanz, der ursprünglich nur Hop hieß, in dieser Nacht der Lindy Hop.

Seit einigen Jahren erlebt der Lindy Hop, getanzt im Viervierteltakt zu Swing-Musik, ein Revival. Weltweit. Anfang der 1980er-Jahre existierten zwar in Europa schon erste Gemeinschaften, die größte in Schweden, wo es heute noch ein riesiges Swing-Tanz-Festival gibt. Aber erst 2005 erlebten London und New York eine regelrechte Lindy-Hop-Welle, die sogar bis nach Asien schwappte. In größeren Städten der westlich geprägten Welt sind heute fast überall Gruppen von Tänzern zu finden, die sich regelmäßig zu Veranstaltungen treffen – zum Tanz in Cafés oder Bars oder einfach auf der Straße. Das hat auch Jens Rahnfeld erlebt. In Rom, Singapur, Kuala Lumpur. „Das ist wirklich fantastisch. Durch die Musik lernt man leicht Leute kennen, die dir dann die Stadt zeigen und bei denen du übernachten kannst.“

Durch diese internationale Vernetzung, auch über Workshops und Festivals, würde sich der Lindy Hop immer wieder verändern, sagt Jens Rahnfeld. „Dieser Tanz ist an keine starren Regeln gebunden. Es gibt einen Grundschritt, der immer wieder variiert und mit Sprüngen und Hebefiguren ergänzt werden kann.“ Getanzt wird frei, es gibt keine festgelegte Abfolge, stattdessen viel Improvisation, der Mann führt. Entwickelt hat sich der Lindy Hop Ende der 1920er-Jahre in den großen Ballsälen New Yorks, als die Big Bands für abendliche Unterhaltung sorgten. Er ist damit der ursprüngliche Swing-Tanz, aus dem andere Stile entstanden. Nicht selten wurden damals farbige Tänzer engagiert, um die weißen Gäste in den Ballsälen zu unterhalten. Erst in den 1930er-Jahren trauten sich zunehmend Weiße auf die Tanzfläche, es gab regelrechte Tanz-Marathons und Wettbewerbe unter den Pärchen. Vor allem der Savoy Ballroom in Harlem wurde zum Ort, der offen war für alle Hautfarben und Bevölkerungsschichten. Hier trafen Tanzstile aus unterschiedlichen Kulturen aufeinander, die sich im Lindy Hop vereinten. Dessen Wurzeln liegen im Charleston und Stepptanz. Er zeigt aber auch Einflüsse anderer Jazztänze und Traditionen aus Westafrika und Europa. Später entwickelten sich aus dem Lindy Hop Stile wie Jive, Boogie Woogie und akrobatischer Rock ’n’ Roll.

Mittlerweile hat die Begeisterung für den Lindy Hop auch Sachsen ergriffen. Immer mehr Vereine und Tanzschulen bieten dafür Unterricht an, nicht nur in Dresden. Seit 2002 gibt es in Leipzig eine Swingszene – und damit deutlich eher als in der Landeshauptstadt. Aus einem Dutzend Menschen, die damals den Tanz für sich entdeckten, weil Swing-Bands aus den USA in Leipzig auftraten, hat sich eine feste Gruppe von fast 500 Tänzern entwickelt. Das zumindest schätzt Lars Förster, Lindy-Hop-Tänzer der ersten Stunde. „Heute gibt es vier Gruppen in Leipzig, die Swing-Tanz anbieten: Eine Tanzschule, einen Verein und zwei Gruppen mit selbstständigen Trainern.“ Lars Förster selbst hat die Gruppe „Lindy Hop Leipzig“ mit aufgebaut. Mittlerweile unterrichten dort mehrere Trainer in Noels Ballroom, zwischen 150 und 200 Tänzer besuchen die offenen Veranstaltungen. Im Lindy-Hop-Trend sieht Lars Förster aber auch eine Modeerscheinung. „Viele probieren den Tanz mal aus, bleiben aber nicht mit dem Herz daran hängen“, sagt der 52-Jährige. So werde es immer einen festen Kern geben. Und Menschen, die in die Szene kommen und wieder gehen.

Das bestätigt auch der Dresdner Tanzlehrer Jens Rahnfeld. Der Großteil der Hobby-Swing-Tänzer besuche einfach mal einen Kurs oder auch mehrere. Gut 90 Prozent seiner „Schüler“ würden aber nicht auf die Tanzveranstaltungen gehen. „Das finde ich sehr schade, denn dafür lernt man den Tanz ja eigentlich.“ In Dresden gibt es etliche Möglichkeiten, andere Lindy-Hop-Fans zu treffen und mit ihnen ganz ungezwungen das Tanzbein zu schwingen. Organisiert werden diese Veranstaltungen von Jens Rahnfeld und seinem „Jam Circle“, aber auch von Vereinen wie den „Dresden Hepcats“ und dem „Dresdner Rock ’n’ Roll-Club“. Regelmäßige Veranstaltungen gibt es unter anderem in der Scheune, im Café V-Cake und in Rosis Amüsierlokal in der Neustadt, aber auch im Gare de la lune an der Pillnitzer Landstraße. Im Sommer finden Open-Air-Treffen statt, wie etwa am Bogenschützen am Neustädter Elbufer oder – ganz klassisch – auf der Straße zur Musik der Dixieland-Bands. Freitags öffnet Jens Rahnfeld seinen Saal im Zentralwerk für Tanzwillige. Je nach Veranstaltung würden zwischen zehn und 60 Leuten kommen, vom Kind bis zum Rentner.

Weil sich das Lindy-Hop-Fieber auch in Dresden rasant ausbreitete, traf Jens vor drei Jahren, nach dem Abschluss seines Geografie-Studiums, die Entscheidung, mit einer eigenen Tanzschule durchzustarten. Im Zentralwerk an der Riesaer Straße im Stadtteil Pieschen mietete er einen großen Saal im Souterrain des Industriegebäudes und baute ihn zu einem Tanzraum um. Parkettboden, Spiegelwand, Musikanlage, eine Bar. „Im Januar 2017 habe ich dann meine ersten Kurse angeboten“, sagt Jens. Er selbst hat seine Liebe zum Lindy Hop vor zehn Jahren entdeckt, damals wiederum über die Liebe zu einer Frau. „Da kannte den Tanz hier kaum jemand.“ Es gab keine Lehrer, keine Kurse, keine Tanzveranstaltungen. Seine Freundin hatte den Lindy Hop zum ersten Mal beim Hutball 2006 im Parkhotel gesehen. Zwei Männer, stilecht in Wollhosen, hätten den Lindy Hop getanzt – und alle seien begeistert gewesen. „Meine Freundin hat mir zuerst nur beschrieben, dass das fetzig aussieht. Dann hat sie mir ein Video geschickt“,erzählt Jens. „2007 gab es nur wenige Videos über Lindy Hop im Internet, heute sind es Millionen.“ Seine anfängliche Skepsis sei sofort gewichen, als er die Tänzer in dem Filmmitschnitt gesehen hat.

„Als wir dann selbst die ersten Schritte getanzt haben, merkte ich, dass ich vieles verstehe, was andere vielleicht nicht so schnell verstehen“, sagt Jens selbstbewusst. Er habe wohl einfach Talent, und das sei bei diesem Tanzstil wichtig. Auf das Körpergefühl komme es an und darauf, auch das Körpergefühl des Partners zu spüren. Beim Wechsel der Figuren wird nicht gesprochen, das passiert über körperliche Signale wie Druck und Gegendruck. So erklärt es seine Tanzpartnerin Angelika Haase. Erst vor Kurzem sind die beiden gemeinsam zum Tag des offenen Denkmals im historischen Ballsaal des Zentralwerks aufgetreten, danach ging es in die Saloppe zum Tanztee, den Jens regelmäßig dort veranstaltet. Das Paar tanzt seit zehn Jahren zusammen, auch sie haben sich über den Lindy Hop kennengelernt. Mittlerweile gibt die Architektin selbst Tanzunterricht.

Für Angelika, die sich vorher dem Standard Latein, Salsa und Tango verschrieben hatte, sei der Swing am Anfang chaotisch gewesen. „Lindy Hop ist nicht schwerer als die anderen Stile. Aber man braucht ein ganz anderes Gefühl, weil es kaum Regeln gibt.“ Die 38-Jährige betont, wie sehr man auf den Tanzpartner achten müsse. „Das ist ähnlich wie Händeschütteln: Drückt dir jemand die Hand, reagierst du und drückst seine.“ Angelika gefällt das lockere Miteinander unter den Swing-Tänzern, die Gemeinschaft mit Menschen vieler Nationalitäten, die Musik. Neben Akademikern wie Ärzten und vielen Lehrern würden vor allem Studenten, aber auch Handwerker und Künstler die Lindy-Hop-Szene in Dresden bestimmen, sagt Jens. In seinen Kursen und auf den Veranstaltungen beobachtet er außerdem, dass es viele Singles gibt.

Der Lindy Hop als Flirthilfe, der Tanztee ein Weg zum neuen Partner? „Klar, warum nicht. Zum einen ist der Kontakt leicht herzustellen, weil jeder mit jedem tanzen kann. Zum anderen bekommt man beim Tanz ja schon ganz gut mit, wie der andere tickt, auch körperlich.“ Oft kämen Frauen oder Männer allein und tanzten mit unterschiedlichen Partnern. „Manchmal entwickelt sich daraus eine Lindy-Hop-Partnerschaft, manchmal Liebe.“ Auch das könnte ein Grund für den Trend im Swing-Tanz sein, schätzt Jens.

Diesen Trend bekommen auch zunehmend Tanzvereine zu spüren, die das Ganze eher sportlich betrachten. Mike Hartmann ist Präsident des Landestanzsportverbandes Sachsen und weiß, dass die Nachfrage in den Vereinen stetig wächst. Dabei würde die Lindy-Hop-Welle schon zum zweiten Mal aufbranden: „Angebote für diesen Tanz gab es schon zu DDR-Zeiten in den 1980er-Jahren.“ Dann sei das Interesse wieder eingeschlafen. Ob und wie lange der aktuelle Trend andauere, könne er nicht einschätzen. Vielleicht sei es wie beim Zumba. „Da gab es vor ein paar Jahren auch ein riesiges Angebot.“ Inzwischen habe sich das Interesse an diesem Fitnesstrend, kombiniert mit lateinamerikanischen Rhythmen, wieder abgeschwächt.

Um der immer noch großen Nachfrage im Lindy Hop zu begegnen, will der Verband im kommenden Jahr Schulungen für Tanztrainer anbieten. Dass der Bedarf groß ist, bestätigen Birgit und Ralph Ziegenbalg, die als Lindy-Hop-Trainer beim Dresdner Rock ’n’ Roll-Club aktiv sind. „Seit neun Jahren gibt es eine Lindy-Hop-Gruppe, die stetig wächst.“ Derzeit trainieren wöchentlich 30 Tänzer, zweimal im Jahr gibt es Anfänger- und Fortgeschrittenenkurse. Und ein Ende des Trends ist momentan offenbar nicht abzusehen. „Diese Gruppen haben einen ständigen und hohen Zulauf“, so die Trainer. Bei den Shows und Auftritten sei die Begeisterung vor allem beim Lindy Hop jedes Mal sehr groß.

Fragt man Menschen, die sonntags zum Tanztee mit Swingmusik in die Saloppe gehen, was sie am Lindy Hop so fasziniert, hört man immer wieder ähnliche Antworten: die Gemeinschaft, auch außerhalb der eigenen Stadt, die tolle Musik, die Freiheit beim Tanz. Zudem scheint es kaum Konkurrenz unter den Vereinen und Tanzschulen zu geben. Das sagt nicht nur Jens Rahnfeld, sondern auch Leonora Veronesi, die zum Tanztee vorbeigekommen ist. Die Studentin aus Zürich ist seit vier Jahren in Dresden, gelernt hat sie den Lindy Hop vor sieben Jahren in der Schweiz. Inzwischen unterrichtet die 25-Jährige bei den „Dresden Hepcats“, geht fünf- bis sechsmal im Monat selbst auf eine Tanzveranstaltung. „Es gibt kein böses Blut untereinander, alle tanzen den Lindy Hop mit großer Leidenschaft. Nur darum geht es.“ Ähnlich beschreibt auch Lars Förster die Swing-Tanz-Gemeinschaft in Leipzig. Im Viervierteltakt bei Swing-Musik zu Liebe und Weltfrieden – ein schöner Gedanke.

Wie schnell das zumindest mit Freundschaft geht, zeigen Katharina Quandt und Jakob Franke, beide Anfang 20 und seit gut einem Jahr Teil der Dresdner Lindy Hop-Szene. „Wir sind durch unsere Freunde darauf gekommen.“ Zwei-, dreimal in der Woche tanzen sie seitdem gemeinsam. Nach dieser kurzen Zeit sieht das schon recht professionell aus bei den beiden. „Es ist gar nicht so schwer“, sagt Jakob. „Wenn der Grundschritt einmal drin ist, sind alle Figuren eigentlich einfach.“

Dass die Tanzlehrer Jens Rahnfeld und Angelika Haase schon mehr als zehn Jahre mit dem Lindy Hop vertraut sind, zeigen sie bei ihren Auftritten. Mal langsamer zum Blues, mal mit etwas höherem Tempo bei Rock ’n’ Roll-Musik, zum Teil auch kombiniert mit Sprüngen. „Wir haben sogar schon Hebefiguren gemacht“, sagt Jens stolz und deutet an, wie er Angelika über seinen Rücken wirft. „Aber wir haben das lange nicht geübt“, ergänzt seine Tanzpartnerin lachend. Deshalb will sie diese Figur lieber nicht zeigen. Im Winter wollen sie wieder mehr trainieren. An der Zeit für den Lindy Hop fehlt es manchmal – an der Leidenschaft dafür auf keinen Fall.