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Amazon wird zum Hochstapler

Der Onlinehändler investiert in Leipzig fünf Millionen Euro in ein Lager für größere Produkte. Beim Streik bleiben die Fronten hart.

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© dpa

Von Michael Rothe

Dass bei Amazon gekämpft, gegenüber der Öffentlichkeit auch mal geblockt und mitunter viel Staub und Sand aufgewirbelt wird, ist bekannt. Dieser Tage passiert das in Leipzig nicht nur im übertragenen Sinn: beim Beachvolleyball-Turnier „Sachsenbeach 2018“, wobei der Internetriese als Titelsponsor auftritt. Beim größten derartigen Freizeitturnier in einer Stadt ermitteln 1 500 Sportler – Schüler, Studenten, Firmen-Mitarbeiter – ihre Besten.

In einem Zeltpavillon am Spielfeldrand schlägt Amazons Standortleiter auf. Verbal. Dietmar Jüngling, seit 2012 beim Konzern, berichtet von einer Großinvestition in ein Leipziger Hochregallager. Bis November sollen in einer Halle, die nur für das Weihnachtsgeschäft genutzt wurde, über 1 000 Regale entstehen. Dort finden Artikel Platz, die nicht in Transportkisten und normale Fächer im Picktower passen: etwa Gartenschläuche und große Packs Babywindeln.

Dadurch könne Leipzig ein breiteres Sortiment anbieten, und das sei wichtig für den Standort, erläutert Stephan Eichenseher, Amazon-Sprecher für Deutschland. „Zusätzlich zu Rosenscheren können wir nun auch Heckenscheren lagern und verschicken, außer Kaffeemaschinen auch große Vollautomaten.“ Die Folge: Kunden in den Großräumen Leipzig, Dresden und Berlin könnten nun auch größere Waren noch am Tag ihrer Bestellung erhalten.

Wesentlicher Teil des fünf Millionen Euro teuren Umbaus seien „50 Flurförderfahrzeuge, man könnte auch Stapler sagen“, so Standortleiter Jüngling. Mit ihnen würden Mitarbeiter Waren aus bis zu acht Metern Höhe entnehmen. Die Fahrzeuge könnten mittels Sensoren problemlos in schmalen Gängen manövrieren. Leipzig sei das zweite Amazon-Center in Deutschland, das so teilweise umgerüstet werde. In den beiden anderen Hallen seien die Picker (Sortierer) und Packer aber weiter auch zu Fuß und mit Wägelchen unterwegs.

Amazon hat in der Messestadt knapp 2 000 Mitarbeiter, gut 90 Prozent von ihnen sind fest angestellt. Im Weihnachtsgeschäft kommen etwa noch einmal so viele Saisonkräfte hinzu. Für den Sonderverkaufstag „Prime Day“ in dieser Woche seien keine zusätzlichen Einstellungen nötig gewesen. „Man stellt sich wegen des Zusatzgeschäfts immer Hektik und Chaos vor, aber das war nicht der Fall“, sagt Jüngling. Zu den meistverkauften Produkten hätten auch der Fire-TV-Stick mit Alexa-Sprechfernbedienung und eine Jamie-Oliver-Pfanne gehört. Absatz- und Umsatzzahlen für Leipzig verrät er nicht, auch nicht, wie viele „Prime“-Mitglieder es in Deutschland gibt. Weltweit sollen es über 100 Millionen sein.

Amazon hatte Prime mit dem Vorteil des schnelleren Versands eingeführt. Später wurde das kostenpflichtige Abo auch um den Zugang zu einem Video- und Musik-Streamingdienst erweitert. Standortchef Jüngling schwärmt vom „Prime Day“, den die Mitglieder mit zusätzlichen, weil vergünstigten, Einkäufen in anderthalb Tagen zum „größten Shopping-Event aller Zeiten“ gemacht hätten. Und das, obwohl am Dienstag und Mittwoch in Leipzig rund 400 Beschäftigte streikten. Wie schon oft, aber erfolglos, in den letzten fünf Jahren.

Seit 2011 drängt die Gewerkschaft Verdi Amazon zu einem Tarifvertrag des Versandhandels. Der Konzern lehnt das ab. Man orientiere sich am Lohnniveau der billigeren Logistikbranche, heißt es. Andererseits: In Italien, wo 2017 auch gestreikt wurde, wendet der Konzern den Handelstarif an. Amazon mit Hauptsitz in Seattle (USA) will nicht mit Verdi verhandeln und pflegt über Betriebsräte und Mitarbeiterforen lieber den direkten Draht zu seinen Leuten. Vor einem Monat hatte das Arbeitsgericht Leipzig die jüngste Betriebsratswahl für ungültig erklärt. Begründung: Betriebe mit regelmäßig bis zu 2 000 Mitarbeitern dürften 17 Betriebsräte haben, in Leipzig wurden aber 19 Mitglieder gewählt. Der Arbeitgeber und nicht zugelassene Bewerber hatten die Wahl angefochten.

Jetzt muss neu gewählt werden, und auch die Streiks bleiben auf der Tagesordnung. Es ist ein Zermürbungskampf. Wissenschaftler wie Kai Hudetz vom Kölner Institut für Handelsforschung verweisen auf Amazons Logistiknetz, in dem etwa Standorte in Polen und Tschechien Engpässe anderswo ausgleichen können. Gerrit Heinemann von der Hochschule Niederrhein in Krefeld bescheinigt den Streiks zu wenig Durchschlagskraft. Der Konzern habe solche Störungen längst einkalkuliert.

Amazon zeige, „dass man auch ohne Tarifvertrag ein fairer und verantwortungsvoller Arbeitgeber sein kann“, erklärt die deutsche Zentrale immer wieder. Als Beleg nennt sie Bonuszahlungen und Mitarbeiteraktien, Beiträge zur betrieblichen Altersvorsorge, kostenlose Lebens- und Berufsunfähigkeitsversicherung, Mitarbeiterrabatte, Zuschüsse für das Kantinenessen und das Fortbildungsprogramm „Career Choice“. „Wir bleiben bei unserer Linie und werden der Gewerkschaft nicht entgegenkommen“, sagt Sprecher Eichenseher. Aufgeben ist auch für Verdi kein Thema. Bei Ikea habe es acht Jahre Kampf bis zum Tarifvertrag gebraucht, heißt es. Das für viele traurige Spiel geht weiter. Verlängerung.

Derweil erkämpfen beim Beachvolley-Firmen-Cup mit 29 Mannschaften zwei Amazon-Teams Platz 3 und 6 – ein Mix aus Streikenden und Arbeitenden. Für Erfolg braucht’s neben Können auch Verständnis.