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Wo sind all die Görlitzer hin?

4408 Menschen, die in der Neißestadt geboren wurden, leben heute in Berlin. Nur aus drei sächsischen Städten sind mehr Leute nach Berlin gezogen.

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© Ellen Paschiller

Von Ingo Kramer

Görlitz. Jens Rohne war ein ganz normaler Görlitzer Junge. Im Sommer 1972 wurde er in der Neißestadt geboren, von 1979 bis 1989 besuchte er die 18. POS am Diesterwegplatz, dann bis zum Abitur 1991 die EOS am heutigen Wilhelmsplatz. Beim anschließenden Zivildienst im Städtischen Klinikum entdeckte er seine Faszination für die Medizin und verabschiedete sich von seiner bisherigen Idee, Lehrer werden zu wollen. Nach dem Zivildienst blieb er zunächst noch im Klinikum tätig, um als Gründungsmitglied des Holzwurm-Vereins das Jugendkulturzentrum Basta an der Hotherstraße mit aufzubauen. Im Jahr 1995 ging er zum Medizinstudium nach Berlin. Dort lebt er bis heute mit seiner Frau Jana und den beiden Kindern (14 und elf Jahre). Dr. Jens Rohne ist Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, gynäkologischer Onkologe und Chefarzt der Frauenklinik in der Maria-Heimsuchung-Caritas-Klinik Pankow.

Und damit ist er erneut ein ganz normaler Görlitzer: Insgesamt 4408 Menschen, die einst in der Neißestadt geboren wurden, leben heute in der Bundeshauptstadt. Das geht aus dem großen Geburtsorte-Ranking für Berlin hervor, das vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) veröffentlicht wurde. Wären die 4408 Menschen noch in Görlitz, würden sie hier gut sieben Prozent (!) der Bevölkerung ausmachen. In Berlin stellen sie 0,1 Prozent der dortigen Bevölkerung. Damit belegt Görlitz Platz 50 im Städteranking. Ganz vorn – keine Überraschung – liegt Berlin selbst: 46,8 Prozent der heute in Berlin lebenden Menschen wurden tatsächlich dort geboren. Es folgen Hamburg (22779 Menschen/0,6 Prozent) und dann auch schon Leipzig (18088 Menschen/0,5 Prozent) und Dresden (17672 Menschen/0,5 Prozent). Außer diesen beiden steht nur eine weitere sächsische Stadt vor Görlitz: Chemnitz auf Platz 18 (8077 Menschen/0,2 Prozent). Bautzen hingegen rangiert mit 2575 Menschen erst auf Platz 106. Insgesamt leben 113703 gebürtige Sachsen in der Bundeshauptstadt.

Doch warum ziehen Görlitzer nun ausgerechnet nach Berlin? „Ich habe mich ausschließlich in Berlin beworben, weil ich einerseits die weltoffene multikulturelle Lebensart sehr anziehend fand und andererseits die Vorstellung sehr inspirierend, mein klinisches Studium an der Charité und damit an einer der weltweit führenden Universitäten und einem medizinhistorisch bedeutsamen Ort durchzuführen“, sagt Jens Rohne. Wenn man in einem Hörsaal sitze, in dem schon große Pioniere der Medizin wie etwa Robert Koch gelesen haben, sei das etwas ganz Besonderes. Gerade die „alternativen“ oder linken Bezirke wie Friedrichshain und Prenzlauer Berg hätten ihn damals gereizt. Mittlerweile hat er mit seiner Frau eine eigene Wohnung in Pankow erworben, in der die Familie lebt. Und selbst damit liegt er wieder im statistischen Trend: 53,3 Prozent der Bewohner von Pankow wurden nicht in Berlin geboren.

Nach Görlitz kommt er – wie so viele gebürtige Görlitzer – nur noch zu Besuch. Das aber sehr gern, vor allem wegen Familie und Freunden. Aber nicht nur deshalb: „Ich bin stolz und sehr froh, dass das Basta weiter Bestand hat und ich mit zu einer alternativen Jugendarbeit beigetragen habe.“ Sein Lebensmittelpunkt aber ist Berlin: „Es ist ein sehr angenehmes Arbeiten, da die Caritas nicht auf Gewinn ausgerichtet ist, das heißt, es geht um den Menschen und um gute Medizin.“ So sei es eine bewusste Entscheidung für diesen Arbeitgeber gewesen. „Und ich fahre acht Minuten mit dem Fahrrad zur Arbeit, was toll ist, auch um viel Zeit für die Familie zu haben.“