Merken

Wo ist Onkel Raimund?

Als Soldat kämpfte er im Zweiten Weltkrieg. Bis heute gilt er als vermisst. Seine Nichte sucht in Bernsdorf nach Antworten.

Teilen
Folgen
© Matthias Schumann

Von Marleen Hollenbach

Bautzen. Das Foto, die Briefe, die Unterlagen – all das hatte Renate Menzel schon tief unten in ihrer Schublade verstaut. Sie wollte mit dem Fall abschließen, sich nicht mehr damit beschäftigen. Doch seit einer Woche ist alles anders. Durch Zufall las sie in der Zeitung, dass bei Bauarbeiten in Bautzen alte Erkennungsmarken von Wehrmachtssoldaten gefunden wurden. Die 72-Jährige erfuhr, wie viele Männer in der Stadt am Ende des Krieges noch gekämpft hatten. Seitdem beschäftigt sie diese eine Frage: War ihr Onkel unter den Soldaten?

Sie hat ihn nie kennengelernt, ihn nie gesehen, nie mit ihm gesprochen. Und trotzdem schaut die Frau aus Straßgräbchen liebevoll auf das Foto von Raimund Gschaid. Es ist das einzige Bild, das sie von ihm hat. Entsprechend vorsichtig geht sie damit um. Alles, was sie von dem adretten Mann auf dem Foto weiß, hat sie von ihrer Mutter. „Es war ihr großer Bruder. Sie hat ihn sehr geliebt“, erklärt Menzel. Bis heute ist sein Schicksal nicht geklärt. Bis heute weiß die Familie nicht, was mit ihm passiert ist. Nur die Briefe haben sie noch. Und diese eine Karte. „Ich bin ganz in deiner Nähe“, schrieb er kurz vor Kriegsende an ihre Mutter. Es war sein letztes Lebenszeichen.

Mindestens eine Million Soldaten der Wehrmacht gelten nach wie vor als vermisst. Mehr als 70 Jahre nach Kriegsende werden immer noch Gefallene gefunden, können Schicksale aufgeklärt werden. Eine entscheidende Rolle spielt dabei eine in Berlin ansässige Bundesbehörde mit dem langen Namen Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht (WASt). Die Mitarbeiter dort verfügen über 300 Millionen Unterlagen, vor allem zu Wehrmachtssoldaten aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Behörde ist ein zentraler Anlaufpunkt für Bürgeranfragen. Und sie wird genutzt. „Das Interesse der Familienangehörigen ist in den letzten Jahren unverändert geblieben und bewegt sich im Bereich von 22 000 bis 23 000 Anfragen pro Jahr“, erklärt Robert Balsam, Mitarbeiter der Dienststelle.

Seit sechs Jahren den Ahnen auf der Spur

Zurück nach Straßgräbchen. Renate Menzel hat vor sechs Jahren mit ihrer Ahnenforschung begonnen. Was sie dabei herausfand, ließ sie schaudern. Unfassbar waren die Tragödien, die sich ihr offenbarten. Aber das müsse sie der Reihe nach erzählen, meint die Seniorin und beginnt ihre Geschichte damit, dass ihre Mutter ursprünglich aus Bayern stammt. In einer großen Familie mit fünf Geschwistern wuchs die Mutter auf. Ihr Pflichtjahr führte sie ins Rheinland. Dort hatte man gerade den Vater von Renate Menzel stationiert. „Es gab eine Kriegstrauung“, erzählt sie.

Ihre Mutter kehrte nach Bayern zurück, blieb aber nicht lang dort. Obwohl die Familie ihr abriet, floh sie über die Frontlinie von Bayern nach Sachsen – und damit in die Heimat ihres Mannes. Der war kurz vor Ende des Krieges auf Genesungsurlaub. „Ich bin das Ergebnis. Ich kam im November 1945 zur Welt““, erzählt Renate Menzel und muss dabei ein bisschen schmunzeln. Als sie mit der Geschichte fortfährt, wird ihre Miene schnell wieder ernst. In Gersdorf, einem kleinen Ort bei Kamenz, der heute zur Gemeinde Haselbachtal gehört, lebte die Mutter, als die Karte des Onkels bei ihr eintraf. „Ich bin ganz in deiner Nähe“. Was war damit gemeint? „Wir hatten erst an Frankfurt Oder gedacht. Doch es kann auch Bautzen sein“, sagt sie.

War damals wirklich so nah dran am Wohnhaus seiner Schwester? Und was ist mit ihm passiert? Raimund Gschaid könnte desertiert sein. Vielleicht wurde er dabei erwischt. Oder kam er doch bei den Kämpfen um? In diesem Jahr würde der Onkel seinen 100. Geburtstag feiern. „Natürlich lebt er nicht mehr“, stellt Renate Menzel nüchtern fest. Und doch wünscht sie sich Antworten. Nicht nur für sich selbst.

Bei ihrer Recherche hat sie ihren Cousin ausfindig gemacht. Es ist der Sohn von Raimund Gschaid. „Alle in unserer Familie wussten, dass es ihn gibt. Aber niemand konnte sagen, wo er nach dem Krieg hingekommen ist“, erklärt sie. Renate Menzel suchte im Telefonbuch nach Personen mit demselben Nachnamen. Eine Nummer nach der anderen rief sie an – überall in Deutschland. Sie telefonierte solange, bis sie ihn schließlich gefunden hatte.

Grausame Details erfahren

„Ich bin deine Cousine aus dem Osten“, sagt sie freundlich. „Ich habe keine Cousine im Osten“, antwortete er harsch. Menzel ließ sich nicht abschrecken. Sie überzeugte ihn und erfuhr grausame Details. Seine Mutter und seine Großmutter waren beide bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Schützend hatten sich die Frauen über den kleinen Jungen gelegt. Er überlebte, wurde als Waisenkind von einer Familie zur nächsten gereicht. Vor allem für ihn will Renate Menzel weiterforschen.

Vielleicht helfen ihr die 40 Erkennungsmarken, die jetzt in einem Wohngebiet in Bautzen gefunden wurden. Zur Identifizierung trugen alle Soldaten die Marken bei sich. Möglich, dass der Onkel einer von ihnen war. Jährlich gelingt es den Mitarbeiter der Dienststelle in Berlin, etwa 800 bis 900 Schicksale von Soldaten mithilfe dieser Erkennungsmarken aufzuklären. Sofern es Angehörige gibt, bekommen sie eine Nachricht. Theoretisch könnte auf diese Weise auch das Verschwinden von Raimund Gschaid endlich geklärt werden. Doch die jetzt gefundenen Marken werden Renate Menzel wohl nicht weiterhelfen. Das Problem: In dem Wohngebiet wurden nur Marken, aber keine Gebeine ausgegraben. Nur wenn beides zusammenkommt, fangen die Mitarbeiter in Berlin überhaupt erst mit der Analyse an. „Ich habe noch die Feldpostnummer“, sagt die Seniorin und hofft, dass sie damit weiterkommt.

„Lass es doch einfach gut sein“, raten viele Leute ihr. Aber Renate Menzel hört nicht darauf. Sie recherchiert weiter. Vor allem deshalb, weil sie den jungen Leuten zeigen will, wie schlimm ein Krieg ist. „Ich wünsche meinen Enkelkindern, dass sie so etwas nicht miterleben müssen.“