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Die Spurensucher

Ein winziger Span kann alles verändern. Im Kriminalwissenschaftlichen Institut werden selbst jahrzehntealte Fälle noch aufgeklärt.

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Von Henry Berndt und Sven Ellger

Unser Mann im weißen Kittel ist ein Profi. Einbruch, Körperverletzung oder Mord – sein Auge ist auf die kleinsten Spuren geschult. Eine Faser an der Jacke, ein Haar im Abfluss, eine Schuppe auf dem Fußboden. Seit 1995 hilft der Gutachter am Kriminalwissenschaftlichen Institut dabei, auch die kompliziertesten Fälle aus ganz Sachsen zu lösen und die Schuldigen zu überführen. „Wenn Sie ihren Kaffeelöffel im Arnhold-Bad abwaschen, dann können wir das nachweisen“, sagt er. „Und zwar im Wasser.“ Die Abteilung 6 des Landeskriminalamtes hat es in sich.

Ein eingeschlagener Schädel kann den Experten viel verraten. Zum Beispiel gibt er Hinweise auf die Tatwaffe.
Ein eingeschlagener Schädel kann den Experten viel verraten. Zum Beispiel gibt er Hinweise auf die Tatwaffe.
Am Tatort sichergestelltes Diebeswerkzeug leistet bei der Spurensuche oft wichtige Dienste.
Am Tatort sichergestelltes Diebeswerkzeug leistet bei der Spurensuche oft wichtige Dienste.

In die von außen so unscheinbaren Bauten am Rande von Dresden, zwischen Heide und Autobahn, kommen nicht sehr oft Besucher. Zwei Jahre und unzählige E-Mails und Telefonate brauchte es, bis wir einen kleinen Einblick in die Arbeit hinter dem hohen blauen Zaun gewinnen dürfen. Immer noch sind viele skeptisch, ob das wirklich eine gute Idee ist. Jedes Wort zu viel könnte ganze Gerichtsverfahren sprengen oder potenziellen Tätern willkommene Schulungen für neue Straftaten geben.

Auch deshalb hat unser Mann im weißen Kittel so lange überlegt, was er sagen und was er uns zeigen kann. Mehr als 100 Mitarbeiter hat das Kriminalwissenschaftliche Institut, kurz KTI. Darunter sind Chemiker, Biologen, Physiker und Ingenieure aller denkbaren Fachrichtungen. Sie suchen sich ihre Fälle nicht selbst, sondern werden von der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder einem Gericht mit reichlich Aufträgen versorgt. In den sechs Fachbereichen geht es unter anderem um Daktyloskopie, also Fingerabdrücke, um Spuren und um die Prüfung von Urkunden und Schriften. Die Abteilung DNA hat eine komplette Etage für sich allein. Hier ist ein Besuch im laufenden Betrieb völlig ausgeschlossen. Womöglich würde man uns sonst bald selbst als Bankräuber überführen, weil wir an der falschen Stelle gehustet haben. Je genauer die Messtechniken werden, desto empfindlicher sind sie für den gefürchteten Dreckeffekt.

Auf der anderen Seite führen diese neuen Möglichkeiten dazu, dass selbst jahrzehntealte Mordfälle jetzt noch aufgeklärt werden. So wie der der damals 18-jährigen Heike Wunderlich, die 1987 im Vogtland getötet wurde. Eine einzige DNA-Spur in ihrem BH, gefunden im KTI in Dresden, führte 30 Jahre später zu ihrem Mörder, der vor wenigen Wochen endgültig zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.

Solche Ermittlungserfolge will natürlich niemand in Gefahr bringen. Schließlich landen wir am Ende eines langen Flurs im Raum eines jungen Mitarbeiters, der gerade nicht da ist und selbst noch keine echten Fälle betreut. Die nötigen Gerätschaften dafür hat er trotzdem. An der Wand lehnen martialische Gerätschaften, mit denen schon geklaut worden ist. Brecheisen, Äxte und Kabelschneider inklusive Schloss sind darunter. In einer Vitrine liegt ein eingeschlagener Schädel, auf dem man noch den Abdruck des Hammers sieht. Er stammt von einer Großmutter. In dem Fall ging es um den kriminellen Wunsch nach einem vorzeitigen Erbe. Mehr dürfen wir nicht erfahren.

Auf dem Schild neben der Tür steht „Trassologie“ – vom Englischen „Trace“ für Spur. Üblicher in der Kriminalistik ist heute der Ausdruck „Technische Formspuren“, unter den all jene Spuren fallen, bei denen ein Objekt ein anderes verändert. Der Klassiker ist der Schuhabdruck im Schlamm, aber es gibt unzählige andere, allein bei den Werkzeugen: trennende Werkzeuge, greifende Werkzeuge, hebelnde Werkzeuge, Manipulationswerkzeuge. Der kriminellen Kreativität sind kaum Grenzen gesetzt.

Über aktuelle Fälle wird unser Mann im weißen Kittel nicht sprechen, das stellt er gleich am Anfang klar. „Seit 6 000 Jahren tobt das Wettrüsten zwischen denen, die etwas verschließen wollen und denen, die trotzdem reinwollen“, sagt er. Daher gelte es, immer wieder neue Untersuchungstaktiken zu finden. Mancher Fall im KTI ist innerhalb einer Stunde erledigt. So musste der Gutachter beispielsweise herausfinden, ob ein PVC-Rohr bei einem Schrottdiebstahl in großem Stile mit einer bestimmten Gartenschere durchtrennt worden ist. „Jede Schere hinterlässt beim Schneiden ein eigenes Muster“, sagt er. Also zerschnitt er mit der gefundenen Schere ein weiteres Stück PVC und legte beide Querschnitte unter sein Vergleichsmikroskop. Siehe da, die Muster waren identisch. Die Gartenschere war das Tatwerkzeug.

In anderen Fällen ist der Aufwand ein ganz anderer, wie bei dem des Radiopraktikanten in Zwickau, der eine junge Frau tötete und danach noch selbst über den Fall berichtete. „Hier mussten wir prüfen, ob er die Knoten vorher vorbereitet hatte oder nicht“, sagt der Gutachter. „Sie waren vorbereitet.“ 2011 wurde der 27-Jährige zu lebenslanger Haft verurteilt.

Genauso häufig führt die akribische Spurensuche der Experten im KTI aber auch dazu, dass die Verdächtigen entlastet werden. So etwa im Fall eines 16 Jahre alten Opel Vectra, bei dem eines schönen Tages eine Bremse versagte. Die Frau fuhr ins Feld und wurde nicht verletzt, doch es blieb der Verdacht, dass der mit ihr in Scheidung lebende Ehemann den Bremsschlauch manipuliert haben könnte. Unser Mann im weißen Kittel bekam daraufhin den Bremsschlauch auf den Tisch, mit dem Auftrag, ihn unter die Lupe zu nehmen. „Das Stück wirkte auf den ersten Blick eher gerissen als geschnitten“, sagt er. Doch sicher sein konnte er nicht, bis er ganz tief im Inneren des Bremsschlauchs einen winzigen Metallspan entdeckte, der sich innerhalb von 16 Jahren langsam durch das Material gearbeitet hatte. „Der Ex-Ehemann ist mir heute noch dankbar, dass ich damals diesen Metallspan gefunden habe.“

In allen KTI-Abteilungen stapeln sich derzeit die Aufträge. So groß ist der Arbeitsdruck, dass bestimmte Aufgaben wie die Untersuchung von Speichelproben inzwischen schon an Fremdfirmen ausgelagert werden. Am Tatort selbst behalten aber stets Polizei und KTI-Experten die Fäden in der Hand. Denn das perfekte Verbrechen gibt es nicht. Irgendeine Spur wartet nur darauf, gefunden zu werden.