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Schmuck vom Trümmergelände

In Neugablonz im Allgäu lebt ein Stück altes Gablonz fort – ein Besuch vor Ort.

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© Irmela Hennig

Von Irmela Hennig

Ein letztes Mal Brot holen vom Bäcker in der Heimat. Emma Wollmann hat sich das nicht nehmen lassen. Im Oktober 1946 kaufte sie diesen Laib, in Franzendorf bei Reichenberg (heute Liberec). Dann machte sie sich auf den Weg, mit ihrer Familie – die Reise ins Ungewisse. Ausgewiesen durch den Aufruf der tschechoslowakischen Behörden, wurden die Wollmanns zu Vertriebenen, wie etwa 2,8 Millionen Sudetendeutsche nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Hunger war groß auf dem Weg in die Fremde. Trotzdem haben sie das Brot nicht gegessen, es aufgehoben als Erinnerung. Die ist heute öffentlich ausgestellt – im Isergebirgsmuseum von Neugablonz. Eine Dauerausstellung beschreibt dort, was nach dem Krieg geschehen ist und was sich entwickelt hat aus diesem Schicksalsschnitt im Leben von so vielen Menschen.

Anne Menzel aus Laußnitz ist Schmuckdesignerin in Neugablonz. Die Kette, die sie trägt, hat sie für die Mailänder Fashion Week geschaffen.
Anne Menzel aus Laußnitz ist Schmuckdesignerin in Neugablonz. Die Kette, die sie trägt, hat sie für die Mailänder Fashion Week geschaffen. © Irmela Hennig
Straßen tragen Namen, die an die alte Heimat erinnern.
Straßen tragen Namen, die an die alte Heimat erinnern. © Irmela Hennig
„1945“ heißt diese Skulptur, sie zeigt die Vertreibung der Sudetendeutschen.
„1945“ heißt diese Skulptur, sie zeigt die Vertreibung der Sudetendeutschen. © Irmela Hennig

Neugablonz – heute rund 14 000 Einwohner – ist ein Einzelfall in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Historiker Lars-Arne Dannenberg und Matthias Donath vom Zentrum für Kultur/Geschichte in Niederjahna und Königsbrück haben gerade ein Forschungsprojekt zum Thema Vertreibung abgeschlossen. Dabei untersuchten sie unter anderem, ob es im Zuge der Vertreibung gelungen ist, komplette Dörfer, Kirchgemeinden, Siedlungen aus dem Osten in den Westen zu verlagern. Ein ostpreußisches Dorf nach Schleswig-Holstein, eine schlesische Kleinstadt ins Ruhrgebiet vielleicht? Aber nein, die Geschichtsschreibung kennt kein Beispiel – nur dieses von Gablonz, das heute Jablonec heißt und zu Tschechien gehört und das in Gestalt von Neugablonz anders, aber doch mit alter Tradition ein zweites Mal entstanden ist. Etwas Einmaliges – das macht neugierig. Also, auf nach Neugablonz.

Der Weg führt in den Südwesten von Deutschland. Nach Kaufbeuren im Ostallgäu, nur ein paar Autobahnkilometer von München entfernt. Wer sich Neugablonz nähert, sieht erst einmal Wald. Der nord-östlich gelegene Stadtteil von Kaufbeuren liegt versteckt. Und das aus gutem Grund. Bis 1945 gab es hier eine Schießpulver- und Munitionsfabrik der Dynamit-Actien-Gesellschaft. Ein kriegswichtiges und geheimes Unterfangen. Nach Kriegsende versuchten US-amerikanische Truppen die Gebäude zu sprengen, was aber nur teilweise gelang. Denn die Bauwerke und Bunker waren massiv.

Einige stehen bis heute und sind in den Stadtteil integriert. Darunter ist das ehemalige Feuerwehrgebäude. In diesem hat der Bundesverband der Gablonzer Industrie seinen Sitz. Und hier ist auch eine Erlebnisausstellung zu sehen, die Einblick gibt in die Glas- und Schmuckherstellung von Neugablonz. In Glasvitrinen funkelt und glitzert es. Colliers, einst entworfen für das Mode-Imperium Christian Dior, eine Brosche für Marlene Dietrich, aber auch einfach nur Modeschmuck bringen die rund 5 000 jährlichen Besucher zum Staunen.

Glasschmuck und Glaskunst – das, was einst in Gablonz gefertigt und in viele Länder der Welt exportiert wurde – ist bis heute hochlebendig. Nicht nur im tschechischen Jablonec bei Zittau, sondern auch in Neugablonz. Denn als die Glas- und Schmuckhersteller weggehen mussten, nahmen sie das Geheimnis ihres Erfolges mit, erzählt Ute Hultsch, die Leiterin des Isergebirgsmuseums in Neugablonz. „Sie haben die Glasrezepte ins Futter der Kleidung eingenäht oder auf Stoffstreifen und Taschentücher geschrieben und um die Füße gewickelt.“ Das war gefährlich und verboten. Aber es war auch die einzige Chance für die Menschen, ihre wirtschaftliche Selbstständigkeit zu sichern. „Viele waren sich im Klaren darüber, dass es kein Zurück mehr gibt“, so Ute Hultsch.

Vorbei am Willen der US-amerikanischen Besatzer, aber mit Zustimmung des hiesigen Landrates und des Bürgermeisters von Kaufbeuren ließen sich die Gablonzer auf dem sogenannten Trümmergelände der Dynamit AG nieder. „Und haben sofort wieder ihr Handwerk ausgeübt“, sagt Manfred Heerdegen, ein Historiker, der sich intensiv mit der Geschichte des Stadtteils beschäftigt. „Anfangs haben sie Altglas verwendet, leere Kartuschen, Holz, Horn, Knochen, Kartoffelteig, um Schmuck und andere kleine Dinge herzustellen.“ Bald aber wurde wieder Glas geschmolzen, wurden Perlen gewickelt, Armreifen, Ketten, religiöser Schmuck gefertigt. Auch auf dem Weltmarkt konnten sie neu Fuß fassen. Denn der Zweig, von Adolf Hitler „Mumpitzindustrie“ genannt, galt als politisch nicht belastet.

Handwerksbetriebe entstanden, wurden Mittelständler. Viele spezialisierten sich weg vom Glasschmuck hin zu technischem Glas, Metallbau, Oberflächenveredlung, Werbung, Verpackung, Kunststoff – von den 70 Mitgliedsfirmen im Bundesverband der Gablonzer Industrie sagen zwei bis drei, dass ihr Hauptgeschäftsfeld nach wie vor Schmuck ist. Die meisten der 2 000 Arbeitsplätze der Verbandsunternehmen bedienen inzwischen schwerpunktmäßig andere Bereiche, weiß Thomas Nölle, Geschäftsführer des Bundesverbandes.

Schmuck wird noch immer hergestellt. Nicht nur in Zusammenarbeit mit dem Glitzersteine-Großfabrikanten Swarovski, dessen Wurzeln in Georgenthal nahe dem alten Gablonz liegen. Sondern auch von jungen Leuten, die das Handwerk in Neu-gablonz gelernt haben – an der Staatlichen Berufsfachschule für Glas und Schmuck. Die wurde 1947 gegründet, ursprünglich, um Fachkräfte für die Handwerksbetriebe heranzuziehen. Heute machen sich die Absolventen aus ganz unterschiedlichen Ländern gern selbstständig – als Gold- oder Silberschmiede, Graveure beziehungsweise Glas- und Porzellanmaler. Dies sind die Ausbildungsberufe, die unterrichtet werden.

In Kaufbeuren im Ringweg haben Benjamin Seifert und Lina Schaller ein Gold- und Silberschmiede-Atelier eröffnet. Beide sind Neugablonzer Absolventen. Benjamin Seiferts Großvater stammt aus Schwarzwasser, heute Cerna Voda in der Nähe von Trutnov, Tschechien. Der Enkel ist in Würzburg aufgewachsen, hat Bauzeichner gelernt, sich dann aber fürs Kreative entschieden und die Ausbildung in Neugablonz gemacht, an dieser Schule, von der er begeistert ist. Nach dem Abschluss hat man ihm und seiner Freundin Lina einen „Existenzgründerladen“ in Kaufbeurens Altstadt angeboten. Vor allem Schmuck fertigen sie hier, eigene Entwürfe und Auftragsarbeiten. Beim Start haben sie mit fünf Jahren gerechnet, die es braucht, bis es läuft. „Das scheint wirklich so zu sein. Im Februar waren fünf Jahre um und wir verkaufen tatsächlich mehr“, so Benjamin Seifert.

Laußnitzerin auf „Fashion Week“

Auch Anne Menzel hat in Neugablonz gelernt. Sie kommt aus Laußnitz bei Königsbrück, ist also eine Oberlausitzerin. Der Vater Tischler, sie wollte in die künstlerische Richtung. Goldschmiedin lernen. Doch sie fand keinen passenden Ausbildungsbetrieb in der Heimat. Entdeckte dann aber die Schule in Neugablonz. Dort hat sie sich für den Graveurberuf entschieden. Sie hat aber auch gelernt, Glasperlen auf klassische Weise herzustellen.

In ihrer kleinen Werkstatt im Haus der Gablonzer Industrie wirft ein Bunsenbrenner – ein traditionelles Gablonzer Gerät – blau-rote Flammen. Seit vier Jahren ist die Oberlausitzerin selbstständig. Bis der Verdienst zum Leben reicht, wird es zehn bis 15 Jahre dauern, so schätzt Anne Menzel. Deswegen hat sie einen zusätzlichen Halbtagsjob in einem Unternehmen. In die alte Heimat zurückgehen? „Das ist für mich keine Option“, sagt die Schmuckdesignerin. „Dort fehlt leider die Kaufkraft, für das, was ich mache.“ Außerdem sei sie viel in Italien, Österreich, der Schweiz – diese Länder erreicht Anne Menzel vom Allgäu aus schneller. Die Künstlerin kombiniert Holz und Glas, findet eigene außergewöhnliche Perlenformen, war jüngst mit einer Kreation auf der Mailänder Fashion Week, nimmt teil an Wettbewerben. Und zeigt den Besuchern der Erlebnisausstellung in diesem Haus der Gablonzer Industrie das Handwerk. Die Gäste staunen – „darüber, wie viel Handarbeit und Erfahrung drinsteckt und wie viel Zeit das alles braucht“, sagt Anne Menzel.

Die Zeit – sie ist schwer zu fassen im Neugablonzer Zentrum. Die Architektur erinnert an Chemnitz. DDR-Neubauten, Fassadenkunst im Stile „Sozialistischer Realismus“, schnörkellose Brunnen. Milchbar. Eine riesige, moderne Kirche, architektonisch angelehnt an die Herz-Jesu-Kirche im alten Gablonz. Neugablonz ist eben kein Allgäudorf, sondern ein Nachkriegsbau. Die 50er-, 70er-, 90er-, 2000er-Jahre spiegeln sich in den Häusern. Die Betriebe sind mit dem Stadtteil verwachsen. Rund um den Markt gibt es Döner und Papierwaren, Cafés und Praxen, ein Musikhaus, Banken, eine Shishalounge. Doch beim Bäcker verkaufen sie den typischen Kleckskuchen und was eine Mauke ist, wissen die Neu–-gablonzer auch. Denn ein bisschen was von der Paurischen Mundart, die in Gablonz und den umliegenden Dörfern gesprochen wurde, ist geblieben.

Nur wenig entfernt von der großen katholischen steht die kleine altkatholische Kirche. Die Konfession ist einst entstanden aus Protest unter anderem gegen den Unfehlbarkeitsanspruch des Papstes. Es gab sie in Gablonz und auch in Neugablonz haben sich die Gläubigen wieder zusammengefunden. Markus Stutzenberger ist Priester für die 375 Seelen. Anfangs waren es mal 900. Es sterben mehr, als getauft werden. Und Beitritte sind selten geworden. Doch Markus Stutzenberger ist ein Mensch mit Optimismus. Einer, der auf Humor, Kinder- und Jugendarbeit setzt, der Flüchtlinge einbinden will, seine Kirche als Schnittstelle zwischen evangelischen und katholischen Christen betrachtet.

Nicht mitgebracht, aber hergeholt haben sie den „Rüdiger“, nachdem er in Jablonec ausgemustert worden war. Die Statue steht breitbeinig im Park neben der Herz-Jesu-Kirche. Die 2,90 Meter hohe Bronzeskulptur des Rüdigers von Bechelaren, einer Figur aus der Nibelungensage, war bis 1945 Wahrzeichen von Gablonz. Weil sie den Tschechen nach Kriegsende „zu deutsch“ gewesen ist, wurde sie entfernt, aber nicht zerstört. Die Neugablonzer konnten den Koloss 1968 kaufen. Ein lautes Denkmal, eine Demonstration. Und in seinem Schatten, nur durch eine Hauptstraße getrennt, steht die leise Mahnung. Eine Skulptur – Mann, Frau, Kleinkind, gebeugt, auf dem Weg. „1945“ heißt dieses Bild der Vertreibung.

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