Merken

Russlands erster Plattenbau hat ausgedient

Die sogenannten „Chruschtschowkas“ sollen abgerissen werden. Schnell regt sich Protest gegen die Pläne.

Teilen
Folgen
© picture alliance/dpa/Mikhail Japar

Von Mathias von Hofen

Nikita Chruschtschow war ihr Namensgeber. Um die damalige Wohnungsnot zu lindern, startete die sowjetische Führung 1958 den Bau neuer Wohnungen im ganzen Land. Die fünfgeschossigen Wohnblöcke – die „Chruschtschowkas“ – wurden schnell und billig hochgezogen.

Die Wohnungen sind klein, meist Ein- oder Zweizimmerwohnungen. Die Wände sind oftmals dünn, Küche und Zimmer eher beengt. Meist handelt es sich um Eigentumswohnungen, denn nach einer Entscheidung des Obersten Sowjets 1991 wurde in Russland das Eigentumsrecht der staatlichen Wohnungen auf die Mieter übertragen.

Im Frühjahr 2017 verkündete Moskaus Bürgermeister Sergei Semjonowitsch Sobjanin ein sehr ehrgeiziges Programm für den Wohnungssektor. Tausende dieser „Chruschtschowkas“ sollen abgerissen werden. 1,6 Millionen Moskauern sollen in neue Häuser umgesiedelt werden.

Die Abrisspläne Sobjanins gingen mit dem Versprechen einher, dass die betroffenen Mieter und Wohnungseigentümer in Hausversammlungen selbst über den Abriss entscheiden dürfen. In einigen Bezirken gab es aber erheblichen Widerstand. „In drei Innenstadtbezirken sind die Wohnungen besonders teuer. Wohnungsinhaber befürchteten eine erhebliche Verschlechterung durch den Umzug in neue Wohnungen“, sagt Michail Loginow, Chefredakteur der führenden Moskauer Immobilienzeitung Stroitelnaja gazeta.

Spürbare Verbesserung

Doch bei Weitem nicht überall in der Stadt war der Widerstand gegen das Neubauprogramm so stark. Bei den meisten Hausversammlungen gab es eine Mehrheit für den Abriss. Der Anreiz in neuere und oft auch größere Wohnungen umziehen zu können, ist für viele der Betroffenen groß. Der Wohnstandard in den neuen Wohnungen ist meist besser. Wer jedoch bisher eine Ein- oder Zweizimmer Wohnung hatte und nun ein Zimmer mehr will, muss dafür bezahlen, denn es gibt nur einen automatischen Anspruch auf die gleiche Zimmerzahl wie in der alten Unterkunft.

Die allermeisten der den Besitzern angebotenen Wohnungen liegen im gleichen Stadtviertel, doch nicht immer in der Nähe der alten Quartiere. Das stört besonders ältere Menschen, die meist gerne in ihrem Wohnumfeld bleiben möchten.

„Außerdem sind viele der älteren Häuser von hohen Bäumen umgeben, die im oft heißen Moskauer Sommer Schatten spenden. Bei den neu gebauten Häusern ist dies meist nicht der Fall“ betont Andrej Skrebnev. Der Angestellte in einer Marketingagentur wohnte früher in einer typischen Moskauer Chruschtschowka. Die Wohnfläche der Zweizimmerwohnung betrug nur 44 Quadratmeter. Seine neue Wohnung hat ebenfalls zwei Zimmer, ist jedoch mit 58 Quadratmeter wesentlich größer. Besonders die Küche ist geräumiger und wird zugleich als Esszimmer genutzt. Das neue Wohnhaus hat zwölf Stockwerke, doch das ist in Moskau nichts Besonderes. „Nur wenn bei Umzügen der Lift blockiert ist, wird es unangenehm. Dann muss ich bis in den achten Stock zu Fuß gehen“, sagt Skrebnev.

Obwohl er mit der neuen Wohnung insgesamt zufrieden ist, sieht er auch Nachteile: „Das Angebot an Parkplätzen ist unzureichend für so ein großes Haus“. Würde er lieber wieder in seine alte Wohnung ziehen, wenn er dies könnte? „Nein, auf keinen Fall. Ich habe mich insgesamt verbessert. Außerdem sind hier die Wände dicker und die Wohnungen weniger hellhörig, was bei manchen Nachbarn ein echter Vorteil ist“, betont Skrebnev. Seine Mutter dagegen hängt an ihrer Chruschtschowka. Sie zeigt voller Stolz, wie sie ihre Wohnung in den vergangenen Jahren renoviert hat. Die Küche ist komplett neu eingerichtet und der Flur ist renoviert. „Umziehen? Nein, niemals,“ betont sie. „Bisher ist für unser Haus kein Abriss vorgesehen. Die Mehrheit der Mieter wäre mit Sicherheit dagegen. Die meisten wohnen hier schon seit mindestens zwanzig Jahren“.

Neue Einnahmemöglichkeiten

Es war kein Zufall, dass an den Demonstrationen gegen das Wohnungsprogramm der Stadt Moskau auch viele ältere Einwohner der Stadt teilnahmen. Bei der größten Demonstration im Mai 2017 kamen 20 000 Menschen zusammen. Sie sehen die geplante Umquartierung als Versuch der Stadt sie aus ihrem angestammten Wohnraum zu vertreiben und Bauunternehmern und Immobilienspekulanten neue Einnahmemöglichkeiten zu verschaffen. Die Investoren haben bei jeder der geplanten Wohnbauten das Recht einen gewissen Anteil der Wohnungen selbst auf dem freien Markt anbieten zu können.

Grundsätzlich also attraktive Konditionen für die Bauwirtschaft. Michail Loginow zweifelt aber an der weiteren Umsetzung des Neubauprogramms: „Wenn in gleichem Umfang wie seit Mitte 2017 weiter gebaut wird, sind die geplanten Wohnungen erst in 70 Jahren fertig.“

Das Wohnungsbauprogramm ist für private Investoren offensichtlich nicht attraktiv genug. Dies liegt nach Ansicht Loginows vor allem daran, dass seit der Finanzkrise 2009 die Wohnungspreise in vielen Teilen Moskaus gefallen sind. Nun werden die Wohnungen weitgehend von der Stadt finanziert. Doch auch Moskaus finanzielle Ressourcen sind endlich und so kommt das Projekt nur schleppend voran. Trotzdem haben nun auch Städte wie Petersburg und Jekaterinburg erklärt, dass sie ein ähnliches Neubauprogramm starten wollen. Bisher hat es hier wenig Proteste gegeben.