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Nicht mal ein Wort für den Feind

Die in Bautzen lebende Autorin und Übersetzerin erhält die mit 10 000 Euro dotierte Auszeichnung für ihr umfangreiches sorbisches und deutschsprachiges literarisches Werk.

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© Uwe Soeder

Von Karin Großmann

Dresden. Eines Tages ging sie dem See auf den Grund. Sie folgte einem Pfad durch die Wiese, kroch unter einem Sperrbalken durch und stand nun am Ufer. Das Wasser war abgelassen. Der Pfad führte weiter. Sie sah die Algen auf dem Asphalt, sah die verwitterten Baumstümpfe an der einstigen Dorfstraße, die Grundmauern eines Hauses, den Einstieg in einen Keller. Sie hörte leise die Muscheln klappern, die sich in den Speichen eines verrosteten Wagenrades verfangen hatten. Zwischen Schutt und Schlick fand sie krummes Metall und buchstabierte die drei Stücke zur LPG. Vor rund vierzig Jahren versank der 100-Seelen-Ort Malsitz im Wasser. Er musste der Bautzener Talsperre weichen.

„Die Dörfer unter Wasser sind in deinem Kopf beredt“ heißt der jüngste Gedichtband der Schriftstellerin Róža Domašcyna aus Bautzen. Sie erhält den Sächsischen Literaturpreis. Das gab das Staatsministerium für Kunst am Dienstag bekannt. „Sie verknüpft sorbische und deutsche Kunst und Kultur auf wunderbare Weise“, so die Begründung. Bisher sollte der Lorbeer weniger bekannte sächsische Autoren fördern. Aus diesem Stadium ist er nun raus. Das Preisgeld wurde auf 10 000 Euro erhöht.

Wenn Schriftsteller die Sprache als ihre Heimat bezeichnen, dann hat Róža Domascyna zwei Heimatländer. Das macht sie reich. Sie schreibt Gedichte, Theaterstücke und kurze Prosa auf Sorbisch und Deutsch. „Beide Sprachen sind mein Eigenes“, sagt sie im Gespräch am runden Kaffeetisch in ihrer Wohnung. „Da ist keinerlei Fremdheit in der einen oder der anderen Sprache.“ Den Zwischenraum füllt die 66-Jährige mit spielerischer Fantasie aus.

Sie nimmt Redewendungen wörtlich, erfindet neue Begriffe und rettet alte vor dem Vergessen. Manchmal weiß sie es selbst nicht, wie der Karbunkel ins Gedicht kam. Dann muss sie ins Wörterbuch schauen, das abgegriffen ist von Generationen. Die Fotogalerie in ihrem Zimmer zeigt ernste und strenge Frauen in Trachten. Karbunkel wird übersetzt mit Karfunkel. „Zu Hause haben wir den roten Edelstein so genannt, Granat und Rubin.“

Realitätssatt und poetisch zugleich

Zu Hause, das war für die Autorin ein Dorf bei Kamenz. Nach der Oberschule lernte sie Wirtschaftskauffrau und studierte Ingenieurökonomie des Bergbaus. Ihre Abschlussarbeit erforschte den Vertrieb von Ersatzteilen, in der DDR ein rares Gut.

Eine Zeit lang arbeitete sie im Braunkohlenwerk „Glückauf“ Knappenrode. Sie hat miterlebt, wie sich die Bagger an die Ränder der Dörfer fraßen und immer weiter. „Ich dachte, dass ich das aufschreiben muss.“ Mit den Jahren ist ein bemerkenswerter Bücherstapel gewachsen – und Anerkennung weit über Deutschland hinaus. Bei prominenten Dichtertreffen ist Róža Domašcyna ein gern gesehener Gast. Diese besondere Stimme ist mit keiner anderen zu verwechseln. Mit scheinbar leichter Hand hält sie den Schrecken fest. Ihre Poesie zählt die Verluste. Wörter wie Fördergerät, Erlebnispark oder Stoßtrupp wirken plötzlich literaturtauglich. Der Sound klingt wirklichkeitssatt. „die flöze eingetauscht gegen bares“, heißt es im Gedicht.

Mit den Dörfern verschwinden die Menschen, und mit den Menschen verschwindet die sorbische Sprache. Róža Domašcyna sieht ihr Handwerkszeug, sieht die Hälfte ihres Reichtums bedroht. Deshalb kann sie das Bestreben nach einer eigenen Vertretung der Sorben verstehen, worüber in der Lausitz derzeit heiß diskutiert wird. „Man muss etwas für das Sorbische tun. Kinder brauchen Gelegenheiten, um die Sprache zu benutzen, und das nicht nur in der Familie. Das ist die einzige Chance.“ In den letzten zwanzig Jahren hat die Zahl muttersprachlich sorbischer Kinder in Sachsen um mehr als die Hälfte abgenommen. Der geplante Sejm will den Sorben eine eigene Stimme jenseits der Parteien verschaffen.

Für Róža Domašcyna hat das nichts zu tun mit jenem Nationalismus, der sich als Reaktion auf die globalisierte Welt an vielen Ecken entwickelt. Lächelnd wehrt sie den Gedanken ab. „Wir haben im Sorbischen ja nicht einmal ein Wort für Feind. Er heißt Nicht-Freund. Wir haben auch kein Wort für Sieger. Er heißt Gewinner.“ Vielleicht klingt das etwas menschlicher. Kein Wunder, dass die Texte der Autorin nicht nur kritische Impulse tragen, sondern eine große Freundlichkeit. Eine Herzlichkeit. Etwas Zugeneigtes. Selbst die Ironie bekommt etwas Sanftes. Wer schreibt, nimmt sich in sein Schreiben hinein.

Die Zärtlichkeit wird im Sorbischen noch durch die Verkleinerungsform verstärkt, die dort viel häufiger benutzt wird als im Deutschen. Im Handumdrehen verwandelt sich Hanna in ein Hannchen oder eine Hantschitschka. Die Häkchen im eigenen Namen bedenkt Róža Domašcyna mit mildem Spott. „diese kschtschrschkombination in meinem namen ...“

Zaungucken als Programm

Vierzig sorbische Gedichte hatte sie in der Schublade, als sie sich am Leipziger Literaturinstitut bewarb – und genommen wurde. „Da hatte ich Glück.“ Im Frühjahr 1989 beendete sie das Studium. Ein Jahr später erschien ihr erster sorbischer Gedichtband, gleich darauf der erste auf Deutsch. Der Titel „Zaungucker“ wurde Programm. Róža Domašcyna erzählt, wie sie am Tisch bei ihrem Berliner Verleger Gerhard Wolf und dessen Frau Christa Wolf Zuspruch erhielt, Ermutigung und manches Stück altdeutschen Apfelkuchen.

Dort lernte sie auch Maler und Zeichner kennen. Jüngste Künstlerbücher entstanden gemeinsam mit den Dresdnerinnen Angela Hampel und Gerda Lepke. Nur zu gern guckt die Autorin über die Zäune ihrer Schreibstube hinaus. Sie engagiert sich in der Akademie der Künste und im Sächsischen Literaturrat, pflegt den Austausch mit ihren Kollegen aus Tschechien, Polen, Serbien und hat manches Buch ins Deutsche geholt. Als Herausgeberin und Übersetzerin dient sie dem Werk der anderen. Sie findet diesen Dienst sehr bereichernd. „Plötzlich springt einen aus dem fremden Text ein Wort an …“

Zuletzt übersetzte sie Märchen aus dem sorbischen Sprachraum. Da werden die gleichen Konflikte verhandelt wie überall, der Faule wird bestraft, und der arme Bauer gewinnt die Königstochter zum Lohn. Anders als sonst spielen Tiere eine wichtige Rolle. „Dabei wird der Wolf oft als dumm oder schwach gezeigt, er wird verhauen und überlistet, andere naschen seine Speisen weg – es ist, als hätten sich die Leute Mut zusprechen wollen, dass das Starke zu besiegen ist.“

Mit der Großmutter hatte Róža Domašcyna eine dorfbekannte Märchenerzählerin in der Familie. Von dieser Frau, die selbst in harten Zeiten nicht aufgab, erbte sie nicht nur Geschichten, sondern auch das Vertrauen auf die Vernunft des Menschen. „Ich hoffe, dass er sich nicht selber auslöscht mit dem, was er sich und der Landschaft antut. Er braucht die Landschaft, um zu wissen, woher er kommt.“

Die Fotografien vom Grund des Sees bewahrt die Autorin im Computer auf. Viele Zettel liegen darum herum: „aufgeschriebene momente, die ich vorzeigen kann“.

Buchtipp: „Die Dörfer unter Wasser sind in deinem Kopf beredt“, Poetenladen Leipzig, 123 Seiten, 18,80 Euro „Das goldene Gut“, Sorbische Märchen, Domowina Verlag, 160 Seiten, 18,90 Euro