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Riese auf Schienen

Goldschmidt Thermit aus Leipzig ist den meisten Bahnfahrern unbekannt – aber auf den Gleisen der Welt unverzichtbar.

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Von Sven Heitkamp

Über dem ehrwürdigen Sandsteingebäude mit Säulen und Erkern in der Leipziger Innenstadt, direkt neben dem Neuen Rathaus, weht eine unscheinbare Fahne: Ein großes G aus weißen Punkten auf rotem Grund. Es ist die Flagge der Firma Goldschmidt Thermit, einem Weltmarktführer für Schienentechnik auf der ganzen Welt: Egal, ob für die Rennstrecke Berlin–München oder den TGV in Frankreich, ob in Japan, China oder Russland, Australien, Brasilien, Südafrika oder den USA – überall werden Goldschmidt-Thermit-Lösungen für Neubau, Instandhaltung, Reparatur und Modernisierung von Gleisanlagen genutzt. Mehr als die Hälfte der jährlich weltweit etwa 2,8 Millionen Schienenschweißungen dieser Art werden mit Produkten aus dem Hause Goldschmidt Thermit gemacht. „Wir tragen dazu bei, den Lebenszyklus und die Sicherheit von Gleisanlagen zu erhöhen, die Unterhaltungskosten zu senken und den Komfort für Reisende wie Anwohner zu verbessern“, sagt der Technische Geschäftsführer Martin Niederkrüger.

Das Herz der Holding schlägt in der Leipziger City. Dort halten der dreiköpfige Vorstand und rund 45 Experten das Familienunternehmen mit seinen fast 1 000 Mitarbeitern und 25 Gesellschaften auf dem Globus zusammen. Jahresumsatz im vorigen Jahr: 160 Millionen Euro. „Und wir wachsen weiter“, sagt Niederkrüger. „In neuen Bahnbau-Geschäftsfeldern ebenso wie in entlegenen Regionen der Erde, die für uns noch weiße Flecken sind.“ Zudem profitiere der Konzern vom weltweiten Ausbau der Schienennetze.

Bald ohne Kuhfuß und Keule?

In einer unscheinbaren Werkhalle in Leipzig-Plaußig, gleich neben dem riesigen BMW-Werk, betreibt der Hidden-Champion sein Innovationszentrum. 16 Produktentwickler und sechs Produktmanager arbeiten dort im Auftrag der Gruppe an neuen Lösungen. „Wir müssen unseren technologischen Vorsprung und unsere Marktführerschaft durch ständige Innovationen halten“, sagt der Leiter der Produktentwicklung, Karsten Ceschia. Gerade haben die Projekttechniker auf einer kurzen Gleisanlage eine Versuchsanordnung aufgebaut: Sie heizen die Stahlstränge mit einer Spezialmaschine binnen fünf Minuten auf 900 Grad vor und stellen einen Blechtiegel mit Granulat aus Aluminium und Eisen über der Schienenlücke ab. Dann entzünden sie das Granulat mit einem elektronischen Stab, bis es in der Werkhalle zischt, blitzt und raucht. Durch die Hitze der chemischen Reaktion wird aus dem Granulat flüssiger Stahl von 3 000 Grad – und die Schienenenden werden lückenlos verbunden.

Das Thermit-Verfahren ist mehr als 120 Jahre alt. Doch die Arbeitsschritte werden immer weiterentwickelt. Derzeit forscht Goldschmidt Thermit in einem europäischen Projekt mit einem Dutzend Unternehmen daran, wie Handgriffe auf Gleisbaustellen mit Maschinen automatisiert werden können: Das Ausrichten der Schienen und Schienenlücken etwa, das von Männern in orangefarbenen Westen noch immer mit Kuhfuß und Keilen von Hand gemacht wird. Das automatische Abschleifen der Schweißstelle werde dort ebenso erprobt wie die Digitalisierung einzelner Vorgänge, erzählt Ceschia. Dabei werden alle Daten der Arbeiten gesammelt, gespeichert und per Cloud-Lösung verfügbar gemacht. So können erste Gleisbaumaschinen von Arbeitern per Tablet oder Smartphone gesteuert werden. Das Ziel sei, die Sicherheit zu erhöhen, Mitarbeiter zu entlasten und dem Fachkräftemangel zu begegnen. „Die digitale Technik wird die Menschen aber nicht ersetzen“, betont Geschäftsführer Niederkrüger. „Zum Schweißen werden weiterhin Schweißer benötigt.“ Doch die Daten von Schweißprozessen und Präzisionsmessungen auf der Baustelle kann Goldschmidt Thermit seinen Kunden wie Bahn- und Gleisbauunternehmen per Cloud und App bereitstellen.

Material und Technik aus einer Hand

Etwa die Hälfte des Unternehmens-Umsatzes bringt allein der Verkauf von Verbrauchsmaterialien zum Thermit-Schweißen an Baufirmen und Verkehrsunternehmen. Deren Hersteller ist die Tochterfirma Elektro-Thermit, die seit 2005 mit rund 160 Mitarbeitern in Halle-Ammendorf ihren Sitz hat. Einen weiteren großen Unternehmensanteil bestreitet der Gleisservice: Dienstleistungen für Verkehrsunternehmen, für die Schienenwege geschliffen, repariert und instand gesetzt werden. „Viele kommunale Nahverkehrsbetriebe wie in Dresden und Leipzig gehören zu unseren Kunden“, sagt Niederkrüger. Zudem bietet Goldschmidt Thermit ein ganzes Sortiment an Spezialgeräten und Gleisbau-Maschinen bis hin zu Zwei-Wege-Fahrzeugen, die auf Schienen und der Straße fahren können.

Von Essen nach Sachsen verlegt

Die Erfolgsgeschichte des Konzerns beginnt mit der Industrialisierung. 1847 gründet der Chemiker Theodor Goldschmidt eine chemische Fabrik in Berlin. 1895 erhält Hans Goldschmidt in Essen das kaiserliche Patent für das aluminothermische Schweißverfahren: das Thermit-Schweißen. Mit dieser Innovation begründet er die Erfolgsgeschichte, die bis heute anhält. 1922 wird das Werk in Halle-Ammendorf gekauft, das allerdings nach 1945 von den Sowjets übernommen wird. Doch nach dem Mauerfall wird das Werk von der Elektro-Thermit-Tochter zurückgekauft. 2004 wird der Sitz der Holding zur Steuerung der internationalen Geschäfte von Essen nach Leipzig verlegt. „Wir sind eines der ganz wenigen Unternehmen, die ihren Konzernsitz aus Westdeutschland in den Osten gebracht haben und hier auch ihre Steuern zahlen“, sagt Niederkrüger. Ausschlaggebend dafür seien die Nähe zum Standort Halle-Ammendorf und das gut ausgebaute Verkehrsdrehkreuz in der Mitte Europas gewesen.

Eigentümer des Familienunternehmens aber sind bis heute die Erben der Gründerväter: Die Muttergesellschaft ist die „Vermögensverwaltung Erben Dr. Karl Goldschmidt“, und die Gründerfamilie ist auch heute im Aufsichtsrat der Holding vertreten.

Diesen und weitere Artikel über die sächsische Wirtschaft und ihre Macher finden Sie in der am Freitag neu erschienenen Ausgabe von „Wirtschaft in Sachsen“, dem Entscheidermagazin der Sächsischen Zeitung.