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Der Kantor räumt seinen Platz

Nach 20 Jahren wechselt Stephan Seltmann nach Dresden. Eines wird er besonders vermissen.

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© Sebastian Schultz

Von Stefan Lehmann

Riesa. Es brauchte eine Weile, bis Stephan Seltmann mit Riesa warm wurde. Genauer gesagt: mit den Riesaern. Die seien anfangs wirklich etwas schwierig gewesen, verschlossen. Das sei nicht ganz einfach gewesen in den Anfangsjahren, sagt der Kantor heute. Es brauchte seine Zeit, doch mittlerweile schwingt einiges an Wehmut mit, wenn Seltmann vom Abschied spricht. Der rückt immer näher: Im Januar verlässt der Kantor Riesa – nach mittlerweile 20 Jahren.

Im Sommer 1997 trat er die Nachfolge von Heinz Jäkel an. Der junge Kantor aus Roßwein hatte da gerade erst ein zweijähriges Stipendium in Paris hinter sich. „Von Paris nach Riesa – na gut, das ist ja auch nur ein Buchstabe, der anders ist“, sagt er heute und lacht. Von Riesa kannte der frischgebackene Absolvent damals noch nicht viel – bis auf den eher bescheidenen Ruf. Damals sei da noch etwas dran gewesen, räumt Seltmann sein. Mittlerweile habe sich in der Stadt viel zum Guten verändert.

Schwierig war für Seltmann in der Anfangszeit nicht nur die etwas zugeknöpfte Art der Riesaer, sondern auch die Fußstapfen seines Vorgängers: 38 Jahre lang hatte Heinz Jäkel die Chöre geleitet. Und dann kommt da ein junger Nachfolger, der doch einiges anders macht. Da mussten Chorsänger und Kantor schon erst einmal miteinander warm werden, erzählt Seltmann.

Um ein Haar wäre es ohnehin völlig anders gekommen für den heute 49-Jährigen. Denn gelernt hatte er ursprünglich in einer Drogerie. Nicht ganz freiwillig, sagt der Pfarrerssohn. „Ich wollte Geiger werden. Aber ich war nicht fleißig genug.“ Hinzu kam noch, dass er wegen seines kirchlichen Hintergrunds kein Abitur machen konnte. Am Ende blieben drei Ausbildungsberufe zur Wahl. „Elektriker, Orthopädie-Schuhmacher oder Drogist. Elektriker wäre mir vielleicht nicht gut bekommen“, scherzt Seltmann, „Orthopädie-Schuhmacher klang für mich langweilig.“

Blieb also erst einmal nur die Option einer Drogerie in Limbach-Oberfrohna. „Ich habe da auch viel gelernt im Umgang mit Menschen, das mir später genutzt hat.“ Um ein Haar hätte Seltmann wohl die Drogerie seiner Chefin übernommen. Ehrenamtlich leitete Seltmann schon einen Dorfchor. Damit sei der Punkt erreicht gewesen, an dem er sich entscheiden musste – und am Ende das Studium der Kirchenmusik wählte.

Seltmanns Steckenpferd ist vor allem die liturgische Kirchenmusik. Die könne man sich etwa so vorstellen wie alte Mönchsgesänge des 6. bis 8. Jahrhunderts. Heute ist Seltmann Vorsitzender des Liturgischen Singkreises in Jena und lehrt an Hochschulen in Dresden und Leipzig. Das alles neben der Arbeit als Kantor. Viele Aufgaben, die allesamt Zeit kosten. Das war letztlich auch der Grund, warum er Riesa nun verlässt, sagt der Kantor: Das Aufgabenfeld sei mit den Jahren immer größer geworden.

„Am Anfang war ich nur für Riesa-Altstadt zuständig.“ Später kam das restliche Stadtgebiet hinzu, dann Strehla. Derzeit übernimmt Riesas Kantor auch noch die Vertretung in Staucha, Bloßwitz und Mautitz. Es sei deshalb zuletzt schwierig gewesen, das mit seinen anderen Aufgaben zu vereinen. Am neuen Arbeitsplatz im Dresdner Diakonissenkrankenhaus soll das anders werden. Seltmann erhofft sich mehr Zeit für den Singkreis und die Lehrtätigkeit.

Eine neue Wohnung in der Neustadt hat Seltmann bereits gefunden, die ersten Kisten sind gepackt. Leicht fällt ihm der Abschied aber nach dieser langen Zeit nicht. Gerade vor Weihnachten habe er mit vielen Chören zum letzten Mal geprobt. „Das ist schon ein seltsames Gefühl. Gerade, weil das in diese hektische Zeit fällt, wo man kaum Zeit hat, darüber nachzudenken.“ Da gebe es schon auch manchen vorwurfsvollen Blick.

Und das, obwohl 20 Jahre an Ort und Stelle für diesen Beruf doch eine recht lange Zeit seien. „Empfohlen wird für alle Verkündigungsberufe eine Zeit von zehn bis 15 Jahren.“ Einfach, weil sonst die Gefahr besteht, dass es sonst zu viel Stillstand in der Gemeinde gibt. Seitens der Kirchgemeinde habe es auch betroffene Reaktionen gegeben. „Aber ich fühle mich ganz, ganz fair behandelt.“

Sein letztes Konzert gibt der Kantor am 29. Dezember in der Trinitatiskirche. Dann leitet er Bachs Weihnachtsoratorium. Danach findet noch eine Jahresfeier mit den Chören statt. Und auch zur feierlichen Einweihung der sanierten Orgel in der Klosterkirche will Stephan Seltmann noch einmal in Riesa sein. Eines wird dem Kantor besonders fehlen, sagt er: „Die Menschen.“ Dann gerät er ins Erzählen, von den sechs Erstklässlern, mit denen er erst am Vortag gearbeitet hat. „Das sind alle sechs begabte Sänger.“ Da trenne man sich nicht gerne. An den Menschenschlag hat er sich sowieso gewöhnt. „Ich bin doch längst Riesaer.“