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„Paket für Sie!“

In Glashütte arbeiten nicht alle für die Uhr. Manche arbeiten auch gegen sie. Zum Beispiel Paketzusteller Mike Andiel.

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© Marko Förster

Von Jörg Stock

Osterzgebirge. Acht Namen, acht Klingelknöpfe. „Acht Chancen“, sagt Mike Andiel. Er klingelt zuerst bei Herrn W., seiner Zielperson. Stille. Noch mal. Nichts. Wohl keiner da. Also die nächste Klingel. Drinnen poltert was. Klingt gut. Die Tür geht auf. Ein Mann in staubiger Kluft. „Paket für Herrn W. – würden Sie das nehmen?“ Kopfschütteln. „Wir sind nur die Handwerker.“ Die Tür geht wieder zu. Mike Andiel klingelt weiter. Eine Männerstimme im Lautsprecher. Paket für Herrn W.? Nein, der Mann bedauert – er muss gleich zur Arbeit. Noch mal klingeln? Je höher die Etage umso geringer die Chancen, sagt Herr Andiel. Oben wohnen meist junge Leute, und die sind arbeiten. Aber kaum hat er geläutet und sich vorgestellt, da geht auch schon der Summer.

Geschäftsadressen wie der Glashütter Autoservice sind praktisch für den Paketmann: Es ist immer einer da, der unterschreibt, so wie hier Chef Gerold Kühnel persönlich.
Geschäftsadressen wie der Glashütter Autoservice sind praktisch für den Paketmann: Es ist immer einer da, der unterschreibt, so wie hier Chef Gerold Kühnel persönlich. © Marko Förster

Paketboten gehören zu den eifrigsten Klingelbenutzern der Nation. Jährlich verteilen sie im Land mehr als drei Milliarden Sendungen. Mike Andiel ist einer von ihnen. Seit 25 Jahren bringt er für den fränkischen Kurierdienst DPD Pakete zu den Leuten im Osterzgebirge, inzwischen mit der eigenen Firma. Sein Karsdorfer Transportbetrieb zählt zu den knapp eintausend Systempartnern, die täglich für DPD auf Achse sind. Andiel beschäftigt ein gutes Dutzend Fahrer. Jeden Morgen laden seine Wagen im Kesselsdorfer DPD-Depot rund 1 200 Pakete ein und verteilen sie zwischen Freital und dem Erzgebirgskamm.

Flink klimmt Mike Andiel mit dem Paket vom Herrn W. die Stufen hoch. Er ist nicht mehr jeden Tag auf der Piste. Aber er springt ein, wenn ein Fahrer Urlaub hat oder, wie heute auf dieser Tour in Glashütte und Umgebung, krank ist. Er macht das gern. Der Kundenkontakt bringt Spaß und die Ortskenntnis bleibt frisch. Und außerdem kommt es bei seinen Mitarbeitern gut an, sagt er, wenn der Chef mitmacht, statt nur Parolen auszugeben. „Dann ist die Laune im Team besser.“

Roland Seffner, der hilfreiche Nachbar, ein kleiner alter Herr in blauer Strickjacke, wartet schon an der Tür. Ja, er nimmt oft Pakete an, sagt er, denn als Rentner ist er immer daheim. „Ich bin die zweite Poststelle von Glashütte.“ Und wenn er doch mal nicht da ist, heben die anderen seine Post auf. „Das klappt bei uns im Haus.“

Zum Schwatzen hat Mike Andiel keine Zeit. Noch die Benachrichtigungskarte in Herrn W.s Briefkasten gesteckt – schon sitzt er wieder im Transporter. Das Erlebnis eben ist typisch für ländliche Touren, sagt er. Es gibt viel weniger Probleme beim Zustellen als in anonymen Städten. Hier draußen kann man Pakete auch im Haus nebenan abgeben, ja sogar am anderen Ende vom Dorf, und trotzdem kommt es an.

Auf der heutigen Runde bedient Mike Andiel knapp dreißig Kunden. Das ist eher gemütlich. Die gemütlichen Touren werden rar. Das Weihnachtsfest rückt heran. Die Schlagzahl steigt. An den Spitzentagen kann eine Tour 90 Stationen haben mit 160 Sendungen. Trotz des moderaten Pensums ist der Laderaum des Mercedes voll bis zur Heckklappe. Eine bunte Mischung, soweit man das anhand der Absender einordnen kann: Büroutensilien, Textilien, Putzmittel, Werkzeuge, Uhrmacherbedarf, Sportartikel, Duftkerzen, Fahrradzubehör, Autoreifen, Klopapier. Die Kunst besteht darin, sagt Herr Andiel, alle Stücke so einzuräumen, dass man sie genau nach Tourenplan wieder rausräumen kann. „Die richtig guten Fahrer haben das intus.“

Stopp beim Auto-Service Kühnel, einem Stammkunden. Gerold Kühnel, der Chef, kommt gerade über den Hof getigert. Er nimmt zwei massige Päckchen in Empfang. Was da drin ist, weiß er auf Anhieb gar nicht. Aber er weiß, dass es gut klappt „mit den Kerlen“ vom Lieferdienst. „Da gibt’s nichts zu fänsen.“ Für Mike Andiel sind Gewerbekunden angenehm. Hier ist immer jemand da, auch wenn man das Zeitfenster mal nicht genau trifft.

Das Zeitfenster, festgelegt am Start der Tour, steht in dem kleinen Handcomputer, MDE genannt. Via Internet weiß jeder Kunde, wann sein Paket bei ihm sein wird. Manche verfolgen ihre Sendung sogar auf dem Live Tracker, zählen die Stationen bis zu ihrem Haus. Allerdings eher spaßeshalber. Dass jemand wirklich dringend auf sein Paket wartet, erlebt Andiel selten. Der Druck, pünktlich zu sein, bleibt.

Bei Edeka geht’s für drei kleine Pakete gleich die Laderampe runter. Es könnten Teebeutel sein. Lagerhaltung ist im Handel kaum noch angesagt. In die Regale stapeln und gleich verkaufen kommt günstiger. Hier öffnet sich eine Lücke neben den Speditionen. Da hinein stoßen die Lieferdienste. „Gewerbekunden sind ein wichtiger Teil des Geschäfts“, sagt Andiel.

Mit seinem Wagen kraxelt der Kurier die steilen Glashütter Berge hinauf. Wenn Schnee liegt, sind das unliebsame Adressen. Da heißt es mehrmals Anlauf nehmen oder auch mal ein Stück zu Fuß gehen. Und das gerade in der stressigsten Zeit des Jahres. Hat man als Paketdienstler Angst vor dem Winter? „Angst nicht unbedingt“, sagt Andiel, „aber Respekt.“

Wieder eine Privatadresse. Doppelhaushälfte. Klingeln? Fehlanzeige. Zum Glück meldet der Handcomputer „ASG“ – Abstellgenehmigung. Hinterm Haus darf das Päckchen wettergeschützt deponiert werden. Ideal für den Boten, denn so kriegt er die Fracht ohne viel Aufwand los. Er legt sie an die überdachte Hintertür, stellt noch die Gießkanne davor zur Arretierung, falls der Wind auffrischt. „Ein bisschen mitdenken sollte man schon.“

Rein ins Auto, fahren, raus aus dem Auto – in schneller Folge hakt Mike Andiel Adresse für Adresse ab. Uhrenbetriebe, Geschäfte, Rathaus, Seniorenheim. Wenn es flutscht, schafft man in der Stunde an die 20 Stationen, sagt er. Gelegentliches Falschparken ist dabei unvermeidlich. Meist sind die anderen Fahrer tolerant. Aber es wird auch mal gemeckert. Da muss man die Nerven behalten, auch mal was „abtropfen“ lassen, sagt Andiel. „Sonst macht man sich den ganzen Tag kaputt.“

Mike Andiel hat einen ziemlich treuen Fahrerstamm. Das nimmt er als Indiz dafür, dass es fair zugeht in seiner Firma, auch wenn es, wie überall im Dienstleistungsgeschäft, „nicht den großen Reichtum“ zu verdienen gebe. Die Branche jedenfalls hat Zukunft. Kenner rechnen fest damit, dass die Deutschen statt drei bald vier Milliarden Päckchen im Jahr kriegen. Mike Andiel kommentiert die Aussichten mit gepflegter Untertreibung: „Ein paar Autos werden wir noch leer machen.“