Merken

Mit Anstand aufs Parkett

Es ist ein Phänomen: Jahr für Jahr lernen 400 Jugendliche bei Thomas Matzke in Görlitz tanzen – und Benimmregeln.

Teilen
Folgen
© pawelsosnowski.com

Von Frank Seibel

Görlitz. Sie kommen in Scharen. Mit Jeans, Kapuzenshirts und Turnschuhen. So wie jeden Tag. Mit Handy. So wie immer. Aber sie kommen an einem Sonnabend zur Mittagszeit, 100, 200, 300 – schließlich fast 400 Mädchen und Jungen in dem Alter, in dem Eltern und Lehrer die Hände vors Gesicht halten: Hoffentlich ist es bald vorbei.

Und dann erklärt Thomas Matzke auch, wie man einen Schlips bindet.
Und dann erklärt Thomas Matzke auch, wie man einen Schlips bindet. © pawelsosnowski.com

Thomas Matzke könnte einer dieser verzweifelten Väter eines „Pubertiers“ sein. Vom Alter her passt es. Aber er kann gar nicht genug bekommen von den 15-, 16-Jährigen, die jetzt in vier großen Gruppen in die Straßburgpassage strömen, um zum Teil völlig abwegige Sachen zu üben: eine Polonaise zu Marschmusik mit Händchenhalten und zwei nach links, zwei nach rechts abdrehen. Vor allem aber vor-seit-zurück, eins-zwei-step-und-Wiiiieeegeschritt. Jugendliche, die von Montag bis Freitag vormittags im Ruf stehen, eigentlich eher zu gar nichts Lust zu haben, was mit Lernen oder Arbeit zu tun hat, die nachweislich viel Zeit mit Kontaktpflege via Smartphone verbringen oder sich ebenso nachweislich mit Filmchen auf Youtube vergnügen und überhaupt natürlich wieder die schlimmste Generation aller Zeiten sind; wie jede Generation vor ihnen.

Thomas Matzke mag sie. Und er liebt seinen Beruf. Vor 24 Jahren hat er die Tanzschule seines legendären Lehrers Werner Ullrich übernommen. Und er staunt selbst ein bisschen über den Erfolg. Denn eigentlich macht er nicht viel anderes als Werner Ullrich vor 50 oder 60 Jahren.

Mitte November wird es immer ein bisschen ernst. Zwei Wochen noch, dann werden die Jungs ihre Schlabberpullis gegen dunkle Anzugjacken tauschen; sie werden ein weißes Hemd und Krawatte oder Fliege tragen. Unvorstellbar eigentlich. Und die Mädchen werden ihre Schlabberpullis gegen wunderschöne Kleider in Dunkelblau, Weinrot oder Créme tauschen. Bislang war das alles noch in weiter Ferne. Aber an diesem Wochenende, zwei Wochen vor dem Abschlussball, bekommt das Bild langsam Konturen und Farben. Fast alle Karten für den Ball sind verkauft. Plätze für die Eltern reserviert; manchmal für Großeltern. Und alle haben schon ein Faltblatt erhalten, das nicht im Geringsten den Anschein erwecken will, dass es hier um etwas „Cooles“ oder „Hippes“ gehe. Altbacken sieht es aus, und es steht geschrieben: „Wenn du zum Ball gehst, dann weißt du, es wird kein Abend wie jeder andere. Du sollst gut aussehen, gut dastehen, gut ankommen.“ Das ist einerseits das Motto für jeden Tag, für jeden Eintrag auf Instagram oder Facebook. Aber hier ist das doch etwas ganz anderes.

Einmal noch dürfen die jungen Tänzer lümmeln. Auf dem Boden hocken sie, den Rücken an die Wände des Tanzsaales im ersten Stock der Straßburgpassage gelehnt. Und alle horchen aufmerksam zu und schauen auf den Mann mit den raspelkurzen Haaren. Thomas Matzke steht da und erzählt altmodisches Zeug. Von Blumen für die Dame und einem kleinen Geschenk für den Herrn – er sagt meist „Duschzeug“ – , davon, wie der Junge – beim Ball ein „Herr“ – das Mädchen – die „Dame“ – den Partner den Eltern vorstellt. Er erzählt von Hierarchien, von oben und unten, also, wer eine Szene bestimmt. Die jungen Menschen sitzen und hören. Keiner albert, keine lacht. Wer wird zuerst vorgestellt? Die Eltern. Denn sie als die Älteren entscheiden, wie sie die Begrüßung gestalten: Förmlicher Handschlag, freundliches Hallo oder gleich eine Umarmung, „Willkommen, liebe Schwiegertochter“. Thomas Matzke lacht, und es ist nicht einer dieser peinlichen Erwachsenenwitze, bei denen die Jugendlichen nach dem Notausgang suchen.

Und dann ist Er dran, der Unglaubliche, den die meisten jugendlichen Mitteleuropäer eher als Karikatur wahrnehmen: Donald Trump. Der superreiche US-Präsident ist der, der seine Krawatte nicht richtig binden kann. Den Knoten schon. Aber viel zu lang ist der Schlips; er sollte nur bis zum Gürtel hinunterreichen, nicht bis zum Schritt. So hat man das vor Jahrzehnten mal gemacht. Thomas Matzke verliert nicht viele Worte, aber er signalisiert den Jungs: Ihr werdet es beim ersten Mal nicht schlechter machen als dieser alte Erfolgsmensch nach Tausenden Versuchen.

Hanna und Tom sind zwei der Jugendlichen, die das alles großartig finden. Tom ist 15 und hat vor gut einem Jahr erstmals getanzt, weil seine Schwester ihm vorgeschwärmt hat. Innerhalb eines Jahres hat er es vom Anfänger- bis zum Goldkurs geschafft. Neulich war er bei einem Ball in Dresden; große Klasse! Und Hanna ist 16, und ihre Eltern können nicht, was sie jetzt lernt. „Es ist etwas Besonderes, das zu können“, sagt sie über Discofox, Foxtrott, Walzer und Cha-Cha-Cha. Fast ihre ganze neunte Klasse ist hier beim Tanzkurs. Aber aus anderen Klassen, sagt sie, kommen nur eine Handvoll. Meist seien es die Mädchen, die sich entschließen, den klassischen Tanzkurs zu machen. Und die ziehen die Jungs dann mit. Von Widerstand oder Widerstreben ist an diesem Wochenende, nach sechs von acht Doppelstunden Tanzkurs, nichts zu merken. Wie Hanna und Tom freuen sich alle auf die Bälle im Nieskyer Bürgerhaus am letzten Novemberwochenende. Schick anziehen, erwachsen sein – und sich einmal so verhalten wie die 16-Jährigen vor 60 oder gar 100 Jahren, damals freilich noch in der Stadthalle.

Eine halbe Stunde dauert der „Knigge“-Schnellkurs. Vielleicht, sagt Thomas Matzke, baut er diesen Teil noch aus. Vielleicht macht er sogar mal einen separaten Kurs daraus: Benimmregeln für viele Lebenslagen. Wie isst man in einem guten Restaurant, was zieht man da an, welche Kleidung ist fürs Theater oder für einen Empfang angemessen. Darüber wissen die meisten Jugendlichen erst mal ganz wenig – und viele Eltern sind sich auch unsicher, hat Thomas Matzke beobachtet. „Aber alle Eltern legen großen Wert darauf, dass ihre Kinder das in der Tanzstunde lernen.“

Und das sei heute anders als noch vor 20 Jahren. „Ihr seid für eure Gäste verantwortlich“, redet Matzke den jungen Leuten ins Gewissen. Ball mit Jeans geht nicht, das müssen sie dem Papa und der Mama notfalls einschärfen. Neulich stöhnte ein Vater scherzhaft, dass er sich nun extra noch einen Anzug kaufen müsse für den Ball. Früher, sagt Matzke, hätten die Eltern das dann nicht gemacht. „Die hatten eine dunkelblaue Jeans, das musste reichen.“

Nach 24 Jahren als Chef seiner eigenen Tanzschule denkt Matzke schon mal darüber nach, warum sein Projekt so gut funktioniert, nicht nur mit den Schülern. Viele Tanzschulen, vor allem im Westen, hätten sich sehr auf die jeweiligen modischen Trends konzentriert: Zumba statt Rumba, Lambada statt Cha-Cha-Cha, HipHop statt Walzer. „Das bieten wir auch an – aber der Schwerpunkt liegt auf den klassischen Standardtänzen.“ Denn mit den Trends verschwinden auch die Kunden. Und dann? Matzke erzählt von einem Paar, das seit Jahrzehnten tanzt. In jungen Jahren vor allem Discofox. Und nun, im Rentenalter, am liebsten Walzer.

Und bei den Jugendlichen wächst die Zahl derer, die nach dem Anfängerkurs noch mindestens einen Kurs dranhängen. Thomas Matzke hofft, dass die nicht erst im Walzer-Alter auf dem Parkett der dann sanierten Stadthalle tanzen ...