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„Man kann keine Schablone anlegen“

Drei Typen, drei Erfolgswege. Bundestrainer Boris Obergföll setzt auf einen offenen Austausch im deutschen Speerwerfen.

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© imago/Camera

Von Michaela Widder

Ausgerechnet vor der Heim-EM in Berlin sind die beiden Top-Speerwerfer angeschlagen. Weltmeister Johannes Vetter, den alle Jojo nennen, laboriert an einer Oberschenkelblessur. Olympiasieger Thomas Röhler schien zuletzt ein wenig müde zu sein. Dafür trumpft der dritte Deutsche, Andreas Hofmann, diese Saison stark auf. Die anhaltende Dominanz der Speerwerfer erklärt Cheftrainer Boris Obergföll im Interview mit der Sächsischen Zeitung.

Herr Obergföll, seit Anfang Juni hat Johannes Vetter keinen Wettkampf bestritten. Wird er bei den Meisterschaften am Sonntag in Nürnberg starten?

Er wird auf jeden Fall werfen und ist fast zu 100 Prozent wieder gesund. Es ist so, dass er wieder normal trainieren kann, sodass ich optimistisch nach Nürnberg schaue. Die Röntgen-Bestrahlungstherapie in Freiburg hat sehr gut funktioniert. Die Entzündung aus dem Beuger ist raus. Die Physiotherapie hat wahnsinnig viel gearbeitet. Trotzdem muss man vorsichtig rangehen. Das ist immer eine gefährliche Sache. Der Blick geht klar Richtung EM. Die Meisterschaften sind für das deutsche Trio nur eine Zwischenstation.

Mit seinen 92,70 Metern aus dem März ist Johannes Vetter noch immer der Weltjahresbeste. Kam diese Weltklasseweite vielleicht zu früh?

Das hatte sich im Trainingslager schon angedeutet. Man macht ja den Athleten nicht bewusst kaputt, indem man sagt, er darf auf keinen Fall weit werfen. Dass Johannes 92,70 Meter in Leiria rausgerutscht sind, war halt nun mal so. Ich hätte schon gedacht, dass es im Saisonverlauf noch ein bisschen weiter geht, aber da kamen ein paar kleine Technikprobleme dazu und die Verletzung, die das Ganze limitiert hat.

Olympiasieger Thomas Röhler ist zurzeit nicht in der Top-Form wie in den vorigen Jahren. Ein Grund zur Sorge?

In Berlin wird er wieder fit sein. Momentan wirft Thomas nicht auf so einem hohen Niveau, wie ich es von ihm gewohnt bin. Er ist wohl ein bisschen müde von der Organisation seines Speerwurfmeetings in Jena im Juni. Das hat doch einige Körner gekostet, genauso wie das einwöchige internationale Trainingscamp, das er selbst veranstaltet hat. Davon ist er ein bisschen platt. Ich denke, dass er wieder zu seinem alten Leistungsniveau finden kann, das zwischen 88 und 91 Metern liegt.

Der Stabilste aus dem Trio ist plötzlich Andreas Hofmann. Woran liegt das?

Er hat viele Dinge mitgenommen, die wir im Trainerteam besprochen haben. Im Training hat er keine Kugeln mehr gestoßen und an seiner Schulterbeweglichkeit gearbeitet. Da hatte er schwere Defizite. Auch das geschwindigkeitsorientierte Training hat er forciert, viel mit leichten Speeren geworfen. Bei der Abfluggeschwindigkeit, die bei uns immens wichtig ist, hat er noch mal einen Schritt nach vorn gemacht. Wenn man einen Meter pro Sekunde schneller abwerfen kann, wirft man halt auch vier Meter weiter.

Die drei Deutschen führen die Weltjahresbestenliste an. Erwarten Sie bei der EM einen Dreikampf – oder mehr?

Aus meiner Sicht wird es ein Fünf- oder sogar Sechskampf. Die drei Deutschen, aber auch der Este Magnus Kirt, der in Rabat 89,75 Meter geworfen hat, ist ein heißer Kandidat. Vizeweltmeister Jakub Vadlejch hat zwar noch nicht die ganz große Weite gezeigt, aber den muss man auf der Rechnung haben. Und es ist noch ein Finne aufgetaucht, der 88 Meter geworfen hat. Da wird die Tagesform entscheiden und wer das Glück ein bisschen auf seiner Seite hat.

Für die Deutschen ist es auf dem Papier dieselbe Ausgangssituation wie vor der WM 2017 in London …

Mein Traum ist ja, mal alle drei auf dem Podest zu haben. Bei der WM hat es nicht ganz so funktioniert. Für die Konkurrenz gibt es nichts Schöneres, als die Deutschen zu schlagen. Wenn wir wieder das Niveau vom Mai erreichen, wird es in Berlin eine coole Flugshow.

Mussten Sie Johannes Vetter nach seinem WM-Titel im August für die nächste Saison besonders motivieren?

Im Gegenteil. Man musste ihn etwas einbremsen, weil er so motiviert war und früh wieder Gas geben wollte. Heiß wie Frittenfett war er, wieder an seine Leistung anzuknüpfen. Und es ging gut los. Dann kam ein Loch, was ihn sehr geärgert hat, aber auch mit der Verletzung zusammenhing.

In keiner anderen Disziplin sind die deutschen Leichtathleten seit einiger Zeit so stark wie im Speerwurf. Was machen Sie als Bundestrainer anders?

Wir tauschen uns im Trainerteam viel aus, machen relativ viele Workshops, arbeiten eng mit dem IAT in Leipzig zusammen und versuchen für jeden das Beste herauszuziehen. Sie sind alle sehr unterschiedliche Athleten. Man kann also keine Schablone anlegen. Jeder hat seinen Weg, und alle drei haben damit weit über 90 Meter geworfen. Wir treten nach außen als Team auf. Es ist ja oft das Problem, dass jeder sein Wissen für sich behalten will. Ich habe keine Geheimnisse, was ich mit Jojo zum Beispiel im Kraftbereich mache. Die Trainerkollegen sind jetzt offener, und der Austausch ist ehrlicher geworden. Das ist ein Riesenvorteil im Vergleich zu anderen Ländern. Doch Erfolg ist vergänglich. Wir müssen erst mal eine EM-Medaille machen. Sonst sind die ersten drei Plätze in der Weltrangliste mal gar nichts wert.

Lars Hamann gab jetzt sein Saisonende bekannt, bevor er überhaupt eingestiegen ist. Trauen Sie dem Dresdner ein Comeback in der deutschen Spitze zu?

Ich hoffe es und würde mich sehr freuen, wenn er noch mal zurückkommt. Der Eingriff, der im September gemacht wurde, war nicht so spektakulär. Deshalb finde ich es schon schade, dass er so Probleme im Ellenbogen bekommt, sobald er einen Speer in die Hand nimmt. Irgendwas muss bei der Operation schiefgegangen sein. Sonst würden solche Komplikationen nicht entstehen. Wir haben nächstes Jahr vier Plätze bei der WM in Doha. Wir brauchen auch die Leute, die von hinten Druck machen.

Die utopischen 100 Meter im Speerwurf sind immer wieder ein Thema, seit Thomas Röhler mal davon gesprochen hat. Auch beim Bundestrainer?

Nein. Klar, wenn irgendwann mal bei einem Athleten alles passt, der Wind gut ist, wird er 100 Meter werfen. Doch dann werden auch die Speere geändert. Darauf müssten sich alle neu einstellen. Im Moment bin ich froh, wenn es keiner schafft.

Das Gespräch führte Michaela Widder.