Merken

Klein gegen Groß

Hans-Jürgen Berg war lange in Klitten zuhause. Nun führt eine Bahntrasse fast durch seinen Garten. Er hat sich gewehrt.

Teilen
Folgen
© Pawel Sosnowski

Von Frank Seibel

Klitten. Über seine Heimat hat Hans-Jürgen Berg Bücher geschrieben. Schöne Bücher, mit vielen Bildern. Schwarzweiß-Fotos aus dem Dorfleben in Klitten, als der Tagebau noch weit war, farbige Bilder aus Zeiten, als Bagger an der Heimat nagten – aber zugleich Wohlstand für die Menschen in der Heide- und Teichlandschaft südlich von Weißwasser brachte.

Das wird rumpeln, das wird laut. So nah führt die neue Niederschlesien-Magistrale am Haus von Hans-Jürgen Berg in Klitten vorbei. Dem früheren Haus, muss man sagen.
Das wird rumpeln, das wird laut. So nah führt die neue Niederschlesien-Magistrale am Haus von Hans-Jürgen Berg in Klitten vorbei. Dem früheren Haus, muss man sagen. © Frank Seibel

Im Klittener Ortsteil Jahmen hat der 69-Jährige fast sein ganzes Leben verbracht. Bis vor drei Jahren. Nun lebt der Rentner in einem Mehrfamilienhaus in der Görlitzer Landeskronstraße. Warum er seinen Heimatort verlassen und gewissermaßen ein neues Leben begonnen hat, auch darüber könnte Hans-Jürgen Berg Bücher schreiben. Doch vorerst existiert diese Geschichte nur in drei Din-A4-Ordnern voll mit offiziellen Briefen: von und an einen Berliner Anwalt, von diesem an eine Bundesbehörde und zurück, an das Bundesverwaltungsgericht und zurück, Post von der Deutschen Bahn AG – und zu guter Letzt eine Urkunde von der Notarin. Das ist die ganz persönliche Heimat-Verlust-Geschichte des Hans-Joachim Berg, der sein ganzes Berufsleben bei der Bahn verbracht hat, in einem alten Eisenbahnerhaus lebte und letztlich vor der Bahn flüchten musste. Es ist eine Geschichte, in der Trauer, Tragik und Nervenzusammenbrüche vorkommen.

Es waren drei schöne Jahrzehnte im Eisenbahnerhaus aus den 1920er Jahren. Es passte zu ihm, denn er war insgesamt 40 Jahre Fahrdienstleiter, erst für die Deutsche Reichsbahn, dann für die Deutsche Bundesbahn, schließlich für die Deutsche Bahn AG. Heruntergekommen war es, als er es 1977 von der Gemeinde gekauft hat. Nach den Spielregeln und Möglichkeiten der DDR machten er und seine Frau es sich nach und nach hübsch; ein gemütliches Nest für sie und ihre drei Kinder. Dann der große Schicksalsschlag: die Frau wurde sehr krank, starb nach jahrelanger Pflege vor zehn Jahren.

Doch der Trauer folgte die Zermürbung. Was für Politiker und Wirtschaftslenker in Sachsen und darüber hinaus ein Aufbruchssignal war, markierte für Hans-Jürgen Berg den Beginn eines langen, schweren Weges. Ein Jahr nach dem Tod der Ehefrau wurden die Pläne der Deutschen Bahn öffentlich, die Bahnlinie, die seit Kriegsende 1945 nur noch eingleisig war, mächtig auszubauen. Niederschlesien-Magistrale heißt das Projekt, das in diesem Jahr in die Finalrunde geht. Ein Prestigeobjekt für die Region und die Deutsche Bahn AG – aber eine gewaltige Veränderung der Lebenswirklichkeit für Mensch und Natur zu beiden Seiten der Bahntrasse.

Für Hans-Jürgen Berg begann ein jahrelanger Kampf – gegen seinen früheren Arbeitgeber. Denn vierzig Jahre lang war er Fahrdienstleiter, bei der Reichsbahn und der Deutschen Bahn. Als er vor acht Jahren die Pläne für die Trasse einsehen konnte, wurde ihm schnell klar, dass es mit der Idylle in Jahmen zu Ende sein würde. Vor allem für sein privates Refugium. Durch die Verbreiterung sollte die Trasse wirklich unmittelbar an seinem Grundstück vorbeiführen. Viel mehr und viel schnellere Züge an jedem Tag, das war und ist der Zweck dieser Niederschlesien-Magistrale. Und weit, bevor die ersten Züge rollen, sollte der 90 Jahre alte Ahornbaum am Rand seines Grundstückes gefällt werden.

„Diese Vorstellung hat mich sehr belastet“, sagt Berg. Aber noch war ja nichts verloren. Es war erst der Beginn des sogenannten Planfeststellungsverfahrens. In Deutschland dauern große Verkehrsprojekte und andere Bauvorhaben ja vor allem deswegen so lange, weil die Behörden des Staates darauf achten, dass Spielregeln eingehalten und Interessen von Anwohnern und anderen Betroffenen berücksichtigt werden. Lärm und Schmutz sind dabei ganz wichtige Faktoren. So ist Hans-Jürgen Berg nur einer von mehren Klittenern, die ihre Interessen gegenüber dem Bauherren Deutsche Bahn AG geltend machen wollten und noch wollen.

Für den Rentner lag der Fall aber anders als bei seinen Dorfnachbarn. Denn sein Haus liegt etwas abseits vom Ortsteil Jahmen. Eine Lärmschutzwand für dieses eine Grundstück würde eine halbe Million Euro kosten und somit den Wert des Hauses übersteigen. Das sei nicht verhältnismäßig, sagte das Eisenbahn-Bundesamt, das gewissermaßen als Aufsichtsbehörde darüber wacht, dass der bundeseigene Konzern Deutsche Bahn AG in solchen Abwägungsprozessen korrekt handelt. Das bedeutet auch, kein Geld zu verschwenden, das letztlich das Geld der deutschen Steuerzahler ist. Die Behörde legte fest, dass Schallschutzfenster und andere „passive“ Maßnahmen ausreichen müssten, damit das Verhältnis zwischen Ausgaben für die Bahn und dem Wert von Haus und Grund angemessen wäre.

So standen nun die Interessen des „kleinen Mannes“ aus Klitten den Interessen des Eisenbahnbundesamtes entgegen. Hans-Jürgen Berg beauftragte einen Rechtsanwalt aus Berlin – den selben wie die Nachbarn aus Klitten – und ein zäher Streit begann.

In solchen Fällen kommt das Bundesverwaltungsgericht als „Schiedsrichter“ ins Spiel. Der Bauherr selbst, die Deutsche Bahn AG (Sparte DB Netz), war dabei gar nicht der Gegenspieler von Hans-Jürgen Berg, stellt Ulrich Mölke klar, der als Projektleiter für die gesamte Planung und den Bau der Niederschlesien-Magistrale verantwortlich ist. „Uns war klar, dass Schallschutzfenster in einem solchen Fall nicht ausreichen.“ Aber wie gesagt: keine Verschwendung von Steuergeld, hatte die Aufsichtsbehörde festgelegt.

„Mich hat das sehr belastet“, erinnert sich Berg. „Ich bin immerzu von zuhause geflohen, bin an den Bautzener Stausee gefahren, um mich abzulenken.“ Dann kamen schwere gesundheitliche Rückschläge. Zwei Nervenzusammenbrüche. „Mein Hausarzt hat mir geraten, Klitten zu verlassen und in einer größeren Stadt noch einmal ein neues Leben zu beginnen“, erzählt Hans-Jürgen Berg.

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig traf schließlich eine Entscheidung, die für beide Seiten akzeptabel ist. Die Deutsche Bahn AG müsse dem Kläger sein Haus und Grund abkaufen zu fairen Konditionen. So bekam der Rentner Hans-Jürgen Berg letztlich einen sechsstelligen Betrag für sein Heimatgrundstück; diesen Wert hätte er wohl nie erzielt, wenn er das Haus privat zum Verkauf angeboten hätte.

„Diese Entscheidung des Gerichts geht für uns völlig in Ordnung“, sagt DB-Projektleiter Ulrich Mölke. Anfang dieses Jahres war der „Deal“ perfekt, und die Deutsche Bahn ist nun im Besitz eines Eisenbahner-Hauses aus den 1920er Jahren. Was sie damit macht, ist noch offen. Vielleicht, sagt Mölke, kann die Bahn es selbst nutzen, als Instandhaltungspunkt direkt an der Strecke. Aber zunächst einmal wolle man das Haus auf dem Markt anbieten. Vielleicht braucht irgendjemand Gewerberäume?

Hans-Jürgen Berg jedenfalls hat jetzt seinen Frieden. „Mir geht es sehr gut“, sagt er. Und freut sich auf seinen 70. Geburtstag.