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Jedes sechste Kind ist zu dick

Der Sportunterricht in der Schule ist nicht die alleinige Lösung gegen Übergewicht, sagt Kreisjugendärztin Ulrike Menzel.

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© dpa

Bautzen. Den Kindern und Jugendlichen fehlt Bewegung.“ Für Ulrike Menzel ist diese Feststellung eine Binsenweisheit. Und dennoch wiederholt sie die Sachgebietsleiterin des Jugendärztlichen Dienstes im Landratsamt beinahe gebetsmühlenartig. Schuld daran sind die Ergebnisse der Jahrgangsuntersuchungen, die gerade vor ihr auf dem Schreibtisch liegen. Die Zahlen zeigen: Immer mehr Kinder haben Übergewicht und Adipositas. Warum Ulrike Menzel trotzdem eine geteilte Meinung zum Sportunterricht in der Schule hat, erklärt sie im Gespräch mit der SZ.

Ulrike Menzel ist Fachärztin für Kinderheilkunde. Sie leitet den Jugendärztlichen Dienst im Landratsamt.
Ulrike Menzel ist Fachärztin für Kinderheilkunde. Sie leitet den Jugendärztlichen Dienst im Landratsamt. © Uwe Soeder

Frau Menzel, jedes Jahr untersuchen Sie und Ihre Mitarbeiter Tausende Vorschulkinder und Sechstklässler im Landkreis. Was stellen Sie fest?

Vor allem, dass die gesundheitlichen Probleme bei Kindern und Jugendlichen allgemein zunehmen. Nur jedes sechste Kind unter den Sechstklässlern, das wir untersuchen, zeigt keine Auffälligkeiten bei den Untersuchungen. Alle anderen haben einen, die meisten auch gleich mehrere medizinische Befunde.

Befunde in der 6. Klasse

11,4 Prozent sind übergewichtig. Das sind doppelt so viele wie bei der Schulaufnahmeuntersuchung.

6,7 Prozent haben Adipositas, sind also krankhaft übergewichtig.

6,2 Prozent sind untergewichtig.

2,9 Prozent sind stark untergewichtig.

8,2 Prozent der Sechstklässler haben Haltungsschwächen.

8,2 Prozent leiden an Skoliose, einer Verkrümmung der Wirbelsäule.

Untersuchungsergebnisse aus dem Schuljahr 2016/17

Quelle: Gesundheitsamt

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Was sind die häufigsten Befunde, die Sie feststellen?

Jedes sechste Kind in der sechsten Klasse ist zu schwer. Besonders bedenklich wächst der Anteil derjenigen, bei denen wir schon von Adipositas, also von krankhaftem Übergewicht sprechen müssen. Der liegt bei den Sechstklässlern bei 6,7 Prozent. Das ist schon sehr bedenklich. Es steigt auch die Zahl der Kinder, die bereits in der 6. Klasse Haltungsschwächen und Wirbelsäulenerkrankungen wie Skoliose haben.

Deshalb plädieren Sie so vehement für mehr Bewegung?

Ja. Mehr Bewegung und eine gesündere Ernährung sind wichtig, um Übergewicht auf Dauer wirklich vorzubeugen. Viele Kinder verbringen zu viel Zeit im Sitzen. Statt mit dem Fahrrad fahren sie im Bus zur Schule, statt draußen zu toben, spielen sie am Computer, sie laufen nicht mehr, sondern werden von den Eltern im Auto überall hingebracht. Sicher ist das alles auch der heutigen Zeit geschuldet, aber gesund ist das nicht.

Und jetzt kürzt Sachsens Kultusminister auch noch an den Sportstunden in der Schule.

Diese Entscheidung will ich nicht werten. Sicherlich wäre jede Sportstunde mehr gut. Die Schüler sitzen lange im Unterricht, müssen sich konzentrieren. Da ist es zuerst einmal wichtig, dass sie zwischendurch Bewegung haben, eine bewegte Pause zum Beispiel. Das muss ja nicht unbedingt der Sportunterricht sein. Gerade für die Übergewichtigen ist der ohnehin nicht immer förderlich.

Warum denn nicht?

Weil sie nicht allen Anforderungen, die der Lehrplan verlangt, gewachsen sind. Ein adipöses Kind schafft es nun mal nicht, über einen Bock zu springen oder am Barren zu turnen. Auch Joggen ist zu belastend für das Skelettsystem. Diese Schüler müssen eher von manchen Sportarten befreit werden und bekommen von uns auch Teilsportbefreiungen. Sie bräuchten eher eine gezielte Bewegungsschulung.

Aber so ist nun mal der Lehrplan.

Das heißt doch nicht, weil es immer so war, muss es immer so bleiben. Es kommt doch vor allem darauf an, die Freude der Kinder an der Bewegung zu fördern. Da gibt es doch viele Möglichkeiten, auch in Zusammenarbeit mit den Sportvereinen.

Was würden Sie als Schulärztin denn vorschlagen?

Ich würde mich freuen, wenn es die Möglichkeit von Sportförderunterricht in den Schulen gäbe. Es gibt so viele Trendsportarten, die den Kindern Spaß machen und die die Koordinationsfähigkeit, Kraft und Ausdauer fördern. Bei Trendballsportarten oder beim BMX-Radfahren zum Beispiel kommen Kinder auch mal mit Freude ins Schwitzen. Darauf kommt es doch vor allem an und da könnte man auch ansetzen.

Welche Rolle spielt eine gesunde Ernährung bei den Kindern?

Da sind wir gleich beim nächsten Problem. Die tollen Projekte, die es in Kitas und Schulen gibt, sind aber alleine nicht ausreichend. Am Ende liegt die Verantwortung hier in erster Linie bei den Eltern. Wenn sie ihren Kindern eine gesunde Lebensweise nicht vorleben, dann kann die Schule auch nur wenig erreichen. Fragen Sie mal ein Kind, was es am liebsten isst. Die meisten werden antworten: Pizza und Nudeln.

Woran liegt das?

Ich glaube, wir sind da auch ein Opfer unserer Zeit. Alles muss schnell gehen. In vielen Familien wird nicht mehr frisch gekocht und gemeinsam gegessen. Nudeln und Fertigpizza sind eben fix gemacht und essen sich auch gut vor dem Fernseher. Dazu kommt die Werbung: Chips, Cola, Pudding, Milchschnitte – das wollen die Kinder dann auch alles haben. Die Kinder alleine schaffen es nicht, ihre Lebensweise zu ändern. Eine gesunde Ernährung wirkt sich auch nicht nur auf die Figur aus, sondern auch auf gesunde Zähne.

Wie sieht es mit den anderen Untersuchungsergebnissen aus?

Wir stellen generell fest, dass Krankheiten und Beeinträchtigungen schon im Kindesalter zunehmen. Wir haben zum Beispiel mehr Kinder mit Sehschwächen als noch vor zehn Jahren. Es wächst die Zahl der Kinder mit Allergien und psychischen Auffälligkeiten. Das kann zwar daran liegen, dass sie heute mehr und besser diagnostiziert werden als noch vor 30 Jahren, ich glaube aber auch, dass das der heutigen Zeit geschuldet ist.

Wie meinen Sie das?

Wir leben heute in einer Leistungsgesellschaft, die auch von den Kindern viel abverlangt. Es gibt weniger stabile Familienverhältnisse. Auf die Kinder stürmt täglich eine Flut von Informationen und Reizen ein, besonders durch die Vielfalt der Medien. Dass sich da manche überfordert fühlen, ist kein Wunder. Aber um noch mal auf den Sport zurückzukommen: Viele Kinder treiben auch richtig viel Sport im Verein. Diese Entwicklung ist sehr positiv.

Gespräch: Jana Ulbrich