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„Es ist für die Kinder verlorene Lebenszeit“

Jugendamtsleiter Claus Lippmann über Bettel-Familien und Flüchtlingskinder, die nicht zur Schule gehen dürfen.

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© Stefan Becker

Herr Lippmann, laut Stadt gibt es in Dresden 313 wohnungslose Menschen, darunter auch Kinder, müssen diese nicht in Obhut genommen werden?

Claus Lippmann (63) leitet seit vielen Jahren das Dresdner Jugendamt.
Claus Lippmann (63) leitet seit vielen Jahren das Dresdner Jugendamt. © Sven Ellger

Es gibt in Dresden 13 wohnungslose Kinder, von denen wir wissen. Diese sind aber nicht obdachlos, sondern wohnungslos. Sie leben zusammen mit den Sorgeberechtigten in Wohnungen oder Wohnheimen der Stadt und werden von Sozialarbeitern des Sozialamtes betreut. Darunter ist auch eine Großfamilie mit sieben minderjährigen Kindern.

Sind darunter auch Kinder der Bettel-Familien aus der Slowakei?

Nein, das sind alles Deutsche.

Aber wenn Sie Kinder, die auf der Straße leben, aufgreifen, nehmen Sie diese in Obhut?

Genau, Kinder, die ohne Eltern angetroffen werden, werden von Polizei oder Ordnungsamt in den Kinder- und Jugendnotdienst gebracht. In diesem Jahr wurden noch keine bettelnden Kinder in Obhut genommen. Vom Ordnungsamt wissen wir, dass zuletzt im März bettelnde Kinder gesichtet wurden.

SPD und Linke kritisieren, die Stadt setzt den Begleitbeschluss zum Bettel-Verbot nicht um, in dem mehr Sozialarbeiter für die Familien beschlossen wurden. Warum nicht?

Wir sind der Meinung, der Stadtrat hat keinen quantitativen Ausbau beschlossen, sondern einen qualitativen. In Dresden gibt es 23 Streetworker-Vollzeitstellen und insgesamt 264 durch die Jugendhilfe geförderte Fachkräfte in den offenen Angeboten. Zum Beispiel in den stadtweiten Angeboten der Jugendhilfe. Unsere Angebote basieren auf einer Analyse des Bedarfs und einer vom Jugendhilfeausschuss beschlossenen Planung. Wir benötigen nicht noch weitere Streetworker für bettelnde Kinder, die sich nur zeitweise in der Stadt aufhalten, sondern die vorhandenen Fachkräfte müssen soweit qualifiziert sein, dass sie sich darum kümmern können.

Und was bedeutet das für die Familien genau?

Die Streetworker sind nicht direkt bei der Stadt angestellt, sondern beim Träger der freien Jugendhilfe. Das Jugendamt fördert diesen, das heißt, wir bezahlen die Personalstellen. Es sind keine zusätzlichen Stellen geplant, sondern der Träger muss seine Mitarbeiter entsprechend weiterbilden.

Können die vorhandenen Mitarbeiter denn überhaupt leisten, was der Rat beschlossen hat? Verfügen sie zum Beispiel über die entsprechenden Fremdsprachenkenntnisse?

Die Verständigung mit den Familien ist ein großes Problem, ebenso wie Personal zu finden, das deren Sprachen beherrscht. Die freien Träger werden von uns angehalten, sich darum zu kümmern. Wir bilden auch die Mitarbeiter im Kinder- und Jugendnotdienst fort.

Immer wieder gibt es Gerüchte, der Notdienst sei völlig überlastet ...

Nein, er ist nicht überlastet. Wir haben das Angebot ausgebaut, es gibt neben den Räumen auf dem Rudolf-Bergander-Ring nun auch neue Räume auf der Teplitzer Straße. Es gibt genügend Plätze für alle, die einen brauchen.

Gab es noch mehr Gründe für den zweiten Standort?

Wir haben uns um den zweiten Standort bemüht, da es erhebliche Probleme mit den Jugendlichen gab. Viele sind verhaltensauffällig und provozieren Streit, diese mussten wir von den Kindern trennen.

Was heißt das konkret?

Die kleineren Kinder bis 13 Jahren sind auf dem Bergander-Ring untergebracht, die größeren ab 14 Jahren sind auf der Teplitzer Straße.

Immer wieder heißt es, die Kinder würden deutlich länger als eigentlich vorgesehen im Kinder-und Jugendnotdienst bleiben. Wie lange ist die Aufenthaltsdauer wirklich?

So kurz wie möglich und so lange wie nötig, ist unsere Devise. Im Durchschnitt sind es elf Tage. Manche Kinder bleiben wenige Sunden und werden dann von ihren Eltern abgeholt, tragische Fälle auch mal mehrere Monate.

Die Kinder, die auf der Straße um Geld betteln, sind teilweise auch im schulpflichtigen Alter, gilt hier keine Schulpflicht?

Nein, diese gilt nur, wenn es einen festen Wohnsitz gibt. Das ist hier nicht der Fall. Da sie sich nur wenige Wochen hier aufhalten, haben sie eher den Status von Touristen.

Um zumindest eine Beschulung, wenn auch nicht in der Regelschule, zu leisten, wäre nicht ein Projekt wie die Straßenschule eine Alternative?

Genau, das ist unsere Überlegung aktuell. Wir überprüfen im Konzept der Straßenschule, ob eine Beschulung für unter 18-Jährige auf niedrigschwelligem Niveau möglich ist, und suchen das Gespräch mit dem Treberhilfe-Verein.

Dazu müsste die Förderung des Projektes dauerhaft geregelt werden ...

Dazu sind wir in Gesprächen mit dem Landesjugendamt.

Apropos Beschulung, Kinder, die in den Erstaufnahmeeinrichtungen leben, besuchen keine Schule. Wie sehen Sie das?

Zunächst einmal sehe ich kritisch, dass ich die Informationen zu den Ankerzentren aus der Zeitung erfahren habe und nicht von den Behörden. Die Kinder sollten unbedingt dort beschult werden, gerade, wenn sie länger als sechs Monate dort leben und dann die Schulpflicht laut Gesetz greift.

Ist ein fehlender Schulbesuch nicht schon eine Form von Kindeswohlgefährdung?

Im Grunde schon, aber wir können sie deshalb nicht in Obhut nehmen. Aber es ist für die Kinder verlorene Lebenszeit.

Die Erstaufnahmeeinrichtungen sind Freistaatsache, haben Sie als Jugendamt Möglichkeiten, hier etwas zu tun?

Für die Schulbildung ist das Land zuständig, aber wir besuchen jetzt schon einmal in der Woche die Einrichtungen und beraten das Personal und die Familien vor Ort.

Wäre das Modell aus Heidelberg, in dem Kinder in EAEs auch ohne Schulpflicht in den Einrichtungen beschult werden, eine Idee für Dresden?

Auf jeden Fall. Ich war kürzlich dort und habe es mir angesehen. Die Beschulung in dem Ankerzentrum läuft parallel zur Regelschule.

Das Gespräch führte Julia Vollmer