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Eine ungewöhnliche Gemeinschaft

Behinderte und nicht behinderte junge Leute starten ein Wohnprojekt – voller Hoffnung, aber nicht ohne Sorge.

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© Sven Ellger

Von Nadja Laske

Martha schleicht im Kreis. Schnüffelt an Jonas selbst gestrickten Socken und rollt sich zu seinen Füßen zusammen. Wo ihr Herrchen ist, ist auch die Mischlingshündin zu Hause. Und wo sie wohnt, wohnen noch neun weitere Zweibeiner. Die haben an diesem Nachmittag einen Stuhlkreis gebildet und besprechen Alltagsfragen wie die nach W-Lan-Anbieter und Haushaltsgeld. Wie viel soll jedes WG-Mitglied monatlich einzahlen und was genau wird davon gekauft.

Auch Eltern sitzen in der Runde. Ihre Kinder sind längst volljährig. Aber sie brauchen mehr Unterstützung als andere junge Erwachsene. Pierre zum Beispiel fährt im Rollstuhl. Das Sprechen fällt ihm schwer, sein Verstand ist wach. Jens läuft mit Gehhilfe. Sechs körperlich und geistig behinderte junge Leute werden künftig gemeinsam wohnen – in der ersten Wohngemeinschaft dieser Art im ganzen Osten Deutschlands. Unter dem Motto „Sechs plus vier, das sind wir“ haben sie sich mit vier Nichtbehinderten zusammengefunden. Die Sächsische Zeitung berichtete Ende Mai über das Projekt, das die Lebenshilfe Dresden und der Verein Cerebrio unterstützen. Nach monatelanger Planung ist es nun so weit: Zimmer für Zimmer füllt sich die frisch sanierte und speziell zugeschnittene 300-Quadratmeter-Wohnung an der Kesselsdorfer Straße mit Schränken, Regalen, Betten und mit Leben.

Marlen Zengerlings Bücher sind einsortiert, die Lampe hängt und der Schreibtisch sieht nach Arbeit aus. Gerade hat die 18-Jährige ihr Biologiestudium an der TU-Dresden begonnen. Aus Thüringen ist sie nach Sachsen gezogen, in ihre ersten eigenen vier Wände. „Ich habe das Inserat im Internet gelesen und fand das WG-Konzept spannend“, sagt sie. Erfahrung mit behinderten Menschen hat sie genau so wenig wie Linda. Die kennt sie erst seit wenigen Tagen, doch beide wirken schon wie beste Freundinnen.

„Ich muss zugeben, mich hat der recht niedrige Mietpreis aufhorchen lassen“, sagt Linda Prescher. Wie Marlen geht die 18-Jährige die ersten Schritte ins eigene Leben und kam zum Studium in die Stadt. Bauingenieurwesen ist ihr Fach. Nicht Sozial- oder Heilpädagogik. Die jungen Frauen beseelt kein Helfergeist. Sie sind neugierig, aufgeschlossen und finden die Art, wie sie mit Pierre, Jens und den anderen wohnen werden, als schlichtweg an der Zeit. „Wir wollen beweisen, dass es geht“, sagt Linda. Dass die Miete für ihr Zimmer letztlich doch kaum günstiger ausfiel, als in anderen Wohngemeinschaften, hat ihr Interesse nicht gedämpft. „Auf meine Bewerbung hin war ich zu einer Art Treffen eingeladen und habe mich gleich gut aufgenommen gefühlt“, erinnert sie sich. Vielleicht, weil ihr gerade die behinderten Mitstreiter mit ihrer besonderen Freundlichkeit und Vertraulichkeit entgegenkamen. Auf jeden Fall aber, weil Linda sofort klar war: Bei so vielen fröhlichen, aufmerksamen Menschen wird es nie passieren, dass niemand fragt: Wie geht es dir?

Auch Marlen will ein Beispiel geben. „Ich hoffe einfach darauf, dass sich Inklusion mehr und mehr durchsetzt“, sagt sie. Dafür zieht sie nicht einfach nur Wand an Wand mit Behinderten. Sie und die drei Weiteren ohne Behinderung übernehmen Pflichten. Ein Mal pro Woche ist jeder von ihnen Ansprechpartner für die behinderten Mitbewohner, auch in der Nacht. In der übrigen Zeit sind Betreuer verantwortlich. Zudem haben sie sich bereit erklärt, an zwei Wochenenden im Monat sieben Stunden lang für Freizeitgestaltung zu sorgen: Spiele spielen, spazieren oder baden gehen, Sport treiben. „Wir haben uns vorgenommen, nach Möglichkeit alle gemeinsam um 19 Uhr Abendbrot zu essen“, sagt Marlen. Einen Gruppenzwang soll es nicht geben, aber ein Mal am Tag zusammen am Tisch zu sitzen, ist allen wichtig. Das Aufräumen hinterher ebenfalls. Die Mädchen sind sicher: Im Zusammenleben werden ihre behindereten Mitbewohner mehr Aufgaben meistern, als sie sich bisher zutrauen.

Bleibt bei allem auch Zeit fürs eigene Leben? „Als meine Mutter von meiner WG erfahren hat, war ihre erste Frage: Schaffst du auf diese Weise dein Studium?“, erzählt Marlen, und Linda stimmt ein: „Genau darum sorgt sich meine Mutter auch.“ Wie es wirklich werden wird, weiß niemand. Sechs plus Vier beginnen ein Experiment – mit Überzeugung und gutem Willen, starker Unterstützung und der Leidenschaft junger Leute, die Neues versuchen.

Nach der Planungsrunde klopft Stephan an Marlens Tür. Sein Zimmer ist fertig eingerichtet, er möchte es zeigen. Auf den Fluren werden Grünpflanzen hin und her getragen, ein Zettel warnt in kindlicher Schrift vor einem noch nicht ganz festgeschraubten Regal. Bald werden die Möbel für die Wohnküche angeliefert, ein riesiger Tisch und eine Sitzecke. Für die Waschmaschine suchen die Bewohner noch eine Lösung. Wäscht jeder für sich allein oder Marlen auch mal Stephans Socken mit? Es wird noch viel zu beratschlagen geben. Der Stuhlkreis war nicht der letzte.