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Eine bleibende Lücke

Vor 80 Jahren wurden auch in Görlitz Synagoge und Geschäfte jüdischer Mitbürger angegriffen. Es war eine Zäsur in der Verfolgung. Ein Zivilisationsbruch, an dessen Folgen Görlitz heute erinnert. Ein Essay.

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© Vorlage: Stadtarchiv Görlitz

Von Sebastian Beutler

Am 9. November 1938 gehen Artur und Grete Schlesinger abends in Görlitz aus. Sie feiern. Es ist ihr sechster Hochzeitstag. Und sie haben noch einen Grund: Ende September hatte das Münchner Patentamt Schlesingers Erfindung eines Brillenscheibenwischers anerkannt. Sie bekommen nichts von dem Geschehen ein paar Straßen weiter mit, von dem Versuch, die Görlitzer Synagoge in Brand zu stecken, von den Überfällen auf jüdische Geschäfte, auf die „Hausbesuche“ schlagender Horden bei jüdischen Mitbürgern. Am nächsten Morgen, so schildert es der frühere Spiegel-Journalist Gerhard Spörl in dem Buch „Es muss noch etwas anderes geben als Angst und Sorge und Herrn Hitler“ wird Schlesinger von der Gestapo zu Hause abgeholt und in deren Zentrale auf der Augustastraße 31 gebracht. Bis zum 6. Dezember wird Schlesinger, ein Görlitzer, der erst durch die Nazis wieder darauf gestoßen wurde, dass er jüdischen Glaubens ist, dort festgehalten, ehe er freikommt. Wie ihm geht es vielen Görlitzer Juden nach der Reichspogromnacht, als Synagogen in Flammen aufgingen und Geschäfte geplündert wurden, um den Mord eines deutschen Botschaftsangestellten in Paris zu sühnen. 32 jüdische Bürger, so hat der Görlitzer Historiker Roland Otto einmal ermittelt, wurden festgenommen, 24 von ihnen landeten in Schutzhaft im KZ Sachsenhausen. Wie es ihnen dort erging, darüber konnten viele nicht sprechen. Ruth Pilz, so schreibt Otto, hätte ihren Vater, den Viehhändler Georg Schlesinger, nach seiner Entlassung kurz vor Weihnachten 1938 wieder gesehen. „Sie war erschrocken, denn sein Aussehen ließ auf zahlreiche Misshandlungen schließen.“

Für viele Deutsche jüdischen Glaubens bildeten die Erfahrungen rund um die Reichspogromnacht eine Zäsur. Dass sie seit 1933 systematisch verfolgt, ihre Berufsmöglichkeiten eingeschränkt, ihre Lebensbedingungen erschwert wurden, das alles hatten sie erduldet. Doch nun wurde auch dem Letzten klar, dass es um ihr Leben ging. Der nach Bamberg gewechselte frühere Görlitzer Rabbiner Max Katten hatte nie darüber nachgedacht, Deutschland zu verlassen. Doch nachdem er Wochen in Schutzhaft im KZ Dachau überlebte, bereitete er die Emigration nach England vor, die ihm und seiner engeren Familie noch glückte. Auch in Görlitz war das für viele der klein gewordenen jüdischen Gemeinschaft der letzte Anstoß, um doch noch zu versuchen, das Land zu verlassen. Schon seit Mitte der 1920er Jahre hatte der Weggang der Görlitzer Gemeinde zugesetzt. Nach Berlin waren viele ihrer Mitglieder gegangen, später dank der Werbung der zionistischen Bewegung nach Palästina. Andere hatten sich der evangelischen Kirche zugewandt. 1933 waren nur noch 376 Bürger jüdischen Glaubens in Görlitz gemeldet, um die Jahrhundertwende nannte die Statistik noch 676. Spätestens seit 1933 nahmen dann viele aus der einst einflussreichen und begüterten jüdischen Gemeinde von Görlitz unter dem Eindruck der politischen Drangsalierungen den Weg ins Exil auf sich. Der frühere Görlitzer Landtagsabgeordnete Volker Bandmann (CDU) wies jenseits der menschlichen Schicksale auch immer wieder auf den Aderlass hin, den die Görlitzer Stadtgesellschaft mit der Ausbeutung, Vertreibung und Ermordung der jüdischen Unternehmer, Ärzte, Richter und Händler erlitt. Es bleibt bis heute eine schmerzvolle Lücke. Spätestens mit der Umsiedlung der letzten Görlitzer Juden ins Lager Tormersdorf kurz vor Weihnachten 1941 ging deren Geschichte in der Stadt zu Ende. Für viele der meist alten Menschen, die von den Nationalsozialisten nach Tormersdorf verfrachtet wurden, endete ihr Leben angesichts der Strapazen in dem Lager oder nach einer weiteren Deportation in den Konzentrationslagern.

Dass die Görlitzer Synagoge als eine der wenigen in Sachsen nicht zerstört wurde, ist einer Laune des Schicksals zu verdanken, die bis heute nicht ganz geklärt ist. Sicher ist: Die Brandstiftung reichte nicht aus, um einen großflächigen Brand zu legen. So wurde zwar der Davidstern vom Dach gerissen, das Gebäude auch geschändet – aber eben nicht abgerissen. Es gibt keine Fotoaufnahmen von der Synagoge aus der Nacht oder den nachfolgenden Tagen. Dafür gibt es eben die Synagoge bis heute in der Stadt, ein unverhofftes Glück – zumal auch noch die alte Synagoge auf der Langenstraße erhalten blieb. Dass auch an diesem Freitag viele Görlitzer ihr Gedenken mit einer Kerze in der Hand zum Ausdruck bringen werden, ist der Evangelischen Kirche zu verdanken. Sie hat bereits in den 1980er Jahren begonnen, an die Jüdische Gemeinde von Görlitz zu erinnern. Wenn immer wieder danach gefragt wird, wozu solche Großorganisationen wie Kirchen oder Gewerkschaften, Parteien oder Arbeitgeberverbände gut sein können, hier gibt es einen sprechenden Beleg. Es ist genau das, was der frühere evangelische Generalsuperintendent Martin Herche gegenüber der SZ zum Abschied sagte: „Aus meiner Sicht kann die Kirche mit ihrer Art, mit der Vergangenheit umzugehen, Attraktivität ausstrahlen. Auch beispielsweise dadurch, wie wir mit den Schattenseiten unserer Geschichte umgehen. Wenn wir einen selbstkritischen Umgang vorleben, dann hat das auch Auswirkungen auf die Gesellschaft.“

Das Gedenken heute findet in einer aufgewühlten Zeit statt, in der auch der Antisemitismus wieder um sich greift: Am Brandenburger Tor sind Israel-Fahnen in Flammen aufgegangen, in Chemnitz ein jüdisches Restaurant angegriffen worden, Berliner jüdische Schulen stehen unter Polizeischutz. Da die Polizeiliche Kriminalstatistik den Wert „antisemitisch“ nicht kennt, hat die Görlitzer Polizei auf Nachfrage der SZ erst tiefergehende Recherchen des zuständigen Kommissariats eingeleitet, um über die Lage in Görlitz berichten zu können. In Berlin gründete sich sogar ein Bundesverband Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias), um ein genaueres Bild von Gewalt gegen jüdische Mitbürger zu gewinnen. Selbst wenn es solche Fälle in Görlitz nicht gibt – weil gar keine Juden hier mehr leben. So bleibt aber die Mahnung dieses 9. November 1938, wie schnell eine Mehrheitsgesellschaft gegen eine schwache Minderheit vorgehen und ihr nach Hab und Gut, später auch nach dem Leben trachten kann. Eine Mahnung, wie dünn der zivilisatorische Firniss über den menschlichen Abgründen ist. Auch daran erinnern die Görlitzer heute. Artur Schlesinger überlebte den Krieg auf schier abenteuerliche Weise und dank seiner Frau. Er war einer der ganz wenigen.

Beginn der Andacht am 9. November in der Frauenkirche 18 Uhr, anschließend Lichterweg zur Synagoge.