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Der Jahrhundertflug

Für Bob Beamon fühlen sich die 8,90 Meter immer noch so an, als wären sie nicht auf diesem Planeten passiert.

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Von Ulrike John, Chris Lugert und Jochen Mayer

Den Jahrhundertsprung von Bob Beamon hat der Berliner Klaus Beer aus allernächster Nähe erlebt. „Der hatte so eine Höhe und dauerte so lange. Da war mir schon klar, dass das eine Riesen-Weite wird“, sagt der spätere Olympiazweite heute. Bob Beamon landet in Mexiko-Stadt trotz der endlos scheinenden Flugkurve irgendwann doch – bei 8,90 Metern! Es dauert fast 20 aufregende Minuten, bis die im wahrsten Sinn unglaubliche Weite vermessen ist – und Beer direkt nach seinem US-Rivalen endlich den ersten Satz in die Grube machen darf an jenem 18. Oktober 1968, der in die Sportgeschichte eingeht.

In Mexiko wusste Margitta Gummel schon beim Training, dass der Weltrekord möglich ist.
In Mexiko wusste Margitta Gummel schon beim Training, dass der Weltrekord möglich ist. © picture-alliance / dpa

Beamon sinkt fassungslos auf die Knie, als die drei magischen Zahlen angezeigt werden. „Erst als mir (Teamkollege) Ralph Boston sagte, dass ich über 29 Fuß gesprungen bin, kollabierte ich. Ich wollte es nicht wahrhaben, glaubte zu träumen und mich in einer irrealen Welt zu befinden.“ So erinnert sich der heute 72-Jährige im Interview mit der Welt am Sonntag. „Diesen Sechssekundenfilm habe ich für die Ewigkeit abgespeichert.“ 23 Jahre hat Beamons Weltrekord Bestand, ehe ihn sein Landsmann Mike Powell mit 8,95 Metern bei der WM 1991 in Tokio knackt.

Selbst die damals neue elektronische Messung taugt 1968 nicht für solch einen Sprung. Irgendwann muss ein konventionelles Stahlbandmaß herhalten. Der gelernte Schneider Beamon aus New York übertrifft den Weltrekord gleich um 55 Zentimeter. Dabei hat er erst mal gar kein so gutes Gefühl: „Ich landete am Rand der Grube und war im ersten Moment enttäuscht, weil mein Gesäß den Sand gestreift hatte. Es war kein perfekter Sprung.“ "Beamen macht noch zwei, drei Hüpfer, wedelt mit den Armen und geht, ohne zu jubeln, zurück. Heute sagt er: „Es fühlt sich noch immer an, als wäre es nicht auf diesem Planeten passiert.“

Irgendwie sind die Voraussetzungen für eine Sternstunde optimal: Ein aufkommendes Gewitter sorgt für einen kräftigen Wind – die gemessenen 2,0 Meter pro Sekunde bei Beamons Coup sind gerade noch regelkonform. Beamon gilt als starker Sprinter und hat 10,0 Sekunden für die 100 Meter drauf. Dazu die Höhenluft, der federnde Tartanbelag, der perfekt getroffene Absprungbalken. „Er hatte eine ideale Figur, ideale Kraft-Lastverhältnisse. Er brachte die Beine ja fast neben die Ohren und konnte optimal landen“, sagt Beer.

Dabei gilt Beamon als Lebemann, der in der Nacht vor seinem historischen Sprung nach eigenen Angaben noch Sex hatte und Tequila kippte. „Also im Training, da war er nicht jeden Tag“, erklärt Beer. Erklärungen dafür lassen sich wohl im Lebensweg finden. Beamons Stütze in den frühen Lebensjahren, die geliebte Mutter, starb, als er noch ein Kind war. Diese Lücke konnte niemand schließen. Der Junge suchte nach Wegen aus der Krise. In der Schule war er Streithammel oder Clown.

Hin- und hergerissen taumelte er durch seinen Alltag. „Meine Schulzeit war ein Dschungel. Man musste immer auf der Hut sein, bereit zu kämpfen oder zu laufen“, sagte Beamon. Der Weg aus dem Dschungel führte zunächst zum Basketball, aber Beamon war ein besserer Leichtathlet. Auf Anraten seines Coaches ging er zur North Carolina University und zog in die Nähe seiner kranken Oma. Als auch die starb, wechselte er ins texanische El Paso. Dort arbeitete er an Technik und Geschwindigkeit.

Im Aztekenstadion brachte Beamon sein Können zur Perfektion. Dabei wäre es um ein Haar nicht dazu gekommen. Es fing schon an in der Nacht zuvor, als ihn seine persönlichen Probleme auf einmal überfluteten. Nach dem Boykott mehrerer schwarzer Athleten war Beamon von der Uni Texas-El Paso ausgeschlossen worden. Zudem lebte er frisch getrennt von seiner Ehefrau.

Beamon verpasst fast das Finale

„Alles lief schief, also bin ich in die Stadt, habe mir einige Tequila genehmigt. Mann, was habe ich mich verloren gefühlt“, berichtete der heute 72-Jährige. Dann stand er in der Qualifikation nach zwei ungültigen Versuchen plötzlich vor dem Aus. Sein Teamkollege Ralph Boston, der damalige Noch-Weltrekordler, beruhigte ihn. Mit Erfolg – Beamon schaffte den Finaleinzug.

Nach dem Rekordflug kommt er nie wieder an seine Wahnsinnsweite heran, scheitert beim Comeback-Versuch 1972. Sechs Versuche haben Weitspringer normalerweise. Der Leichtathletik-Star ist zum fünften Mal verheiratet und nach eigenen Angaben ein sehr glücklicher Mensch.

Auf eine Stufe mit Beamon stellten manche Chronisten in Mexiko einen zweiten Weltrekord: Margitta Gummel wuchtete die Kugel auf 19,61 Meter. Erstmals übertraf eine Frau die 19 Meter. Ihre alte Höchstmarke stand bei 18,87 Metern, aufgestellt vor dem Abflug zu den Spielen. Die Steigerung war noch gewaltiger als bei Beamon. Im DDR-Olympiabuch wird sogar aufgelistet, was Gummels Rekord zu etwas noch Besonderem macht im Vergleich zu Beamons Flug: Ihr halfen weder Tartanbahn, Rückenwind noch die Höhenluft.

Doch schon gut sieben Monate nach dem Goldstoß war Gummel den Rekord wieder los. Sie selbst holte ihn sich zum Saisonende mit 20,10 Metern zurück. Die Leipzigerin sah ihre Weite nie mit Beamon auf einer Stufe. „Ich habe immer gesagt, dass der Weitsprung der Männer in Mexiko 1968 eine Jahrhundertleistung war“, sagte sie mal im Interview mit der Sächsischen Zeitung. „Die lässt sich nicht mit dem Kugelstoßen der Frauen vergleichen. Die Frauen-Leichtathletik war da ja auch noch eine vergleichsweise junge Sportart, in der es enormes Entwicklungspotenzial gab. Für mich war es eine Sternstunde. Ich konnte das ganze Jahr ohne Verletzungen trainieren und war in Superform.“

Gummel hat peinliche Begegnungen

Und plötzlich war sie stadtbekannt. „Wenn ich mit der Straßenbahn zum Training fuhr, dann unterhielten sich manchmal alle im Waggon mit mir. Nicht, dass das unangenehm war, aber etwas peinlich schon“, erzählte sie über die ungewohnte Popularität. „Manchmal bin ich in die nächste Bahn umgestiegen. Morgens standen Leute vor meiner Tür, die mich nur mal kennenlernen wollten. Ich habe unter dieser Art Öffentlichkeit nicht gelitten. Aber ich war auch froh, als ich wieder unbeobachtet durchs Leben gehen konnte.“

Die Leipziger Polizei hatte sich ein besonderes Geschenk nach dem Olympiasieg einfallen lassen. Gummel bekam das Auto-Kennzeichen SC 19-61, als Erinnerung an die Weltrekord-Weite, obwohl sie da noch gar keinen Führerschein hatte. Inzwischen stießen in der Welt mehr als 100 Frauen weiter. Beamons Mexiko-Weite übertraf bisher nur ein einziger. (dpa/sid/SZ)