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Der Hausierer der Neustadt

Joachim Schuster streifte mit Kamera und Stift durchs Viertel und zauberte eine Pflichtlektüre für Entdecker.

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© Stefan Becker

Von Stefan Becker

Das ist ein dickes Ding, das 320 Seiten starke Buch, das Joachim Schuster da über die Neustadt geschrieben hat. Und ein noch viel dickeres Ding ist es, dass der Autor nicht einmal in dem Viertel wohnt, sondern ganz weit weg, im äußersten Osten von Dresden, im idyllischen Kleinzschachwitz. Doch wenn es seine Zeit erlaubt und auch seine Gattin Angelika zustimmt, dann schwingt er sich auf sein Rad und strampelt die Elbe entlang, seiner alten Leidenschaft entgegen. Die währt nun schon seit der Wende.

Bedeutete das Ende der DDR doch auch das Ende der Abrisspläne, die den Stadtteil in eine schmucke Plattenbausiedlung hätte verwandeln sollen. „Am südlichen Ende der Martin-Luther-Straße steht so ein Plattenbau noch Modell, doch zum Glück kam es ja anders“, sagt der 70-Jährige. Der hatte erstmals in den 70er-Jahren als Chemie-Student der TU die Neustadt betreten, es danach mit den Besuchen aber nicht übertrieben: „Es war mir zu verfallen, zu dreckig, und wenn überhaupt, gab es da vielleicht mal eine Bockwurst zu essen.“

Nach der Uni ging Schuster in die Forschung nach Rossendorf, leitete ein Labor, beschäftigte sich mit der Aufbereitung von Uran, landete nach der Wende in der Selbstständigkeit und verfasste Gutachten zur sogenannten „Gefährdungsabschätzung“ von Altlasten. Als ihm seine Tochter dann in den 90ern eröffnete, dass sie in die Neustadt ziehen wolle, kam ihm sein Wissen sehr zugute. Denn Gefahren gab es in den maroden Straßenzügen überall abzuschätzen. Wobei sich Schuster mit seiner Kamera Exakta auf die architektonischen Risiken konzentrierte.

Aus einem inneren Impuls heraus wollte er den Verfall dokumentieren, noch schnell auf Dia bannen, was der sich anbahnende Aufbau Ost bald verschwinden lassen würde. Keinen morbiden Charme sollten seine Bilder einfangen, sondern das deprimierende Grau einer Trümmerlandschaft: „Ruinen schaffen ohne Waffen“, hatten die wackeren Bewohner über Jahre gewitzelt. Schuster knipste sich durch die Straßen, wagte sich in Hausflure und in Hinterhöfe, traute sich auf Dachböden und in dunkle Keller, leistete für einen Chronisten ganze Arbeit.

Als die ersten Schrott-Immobilien langsam wieder Kontur bekamen, als das Sanieren und Renovieren in vollem Gange war, las und lernte Schuster im Standartwerk des Kunsthistorikers Fritz Löffler, „Das alte Dresden“, über Baustile und Epochen und das Viertel richtig lieben. Das ist bis heute so geblieben. Vor drei Jahren stellte der Emsige in einem ersten Fotobuch die Tristesse und das Erblühen gegenüber; im aktuellen Buch nimmt er seine Leser mit zu den Straßen und Plätzen, die für die Neustadt besonders bedeutend waren und wieder sind.

Für das Mammutwerk zog er zum Beispiel auf der Königsbrücker Straße wie ein Hausierer von Tür zu Tür, klingelte und bat um Einlass. Dasselbe am Martin-Luther-Platz, wo Offiziere mit ihren Familien in eleganten Jugendstil-Häusern residierten, deren Hausflure schleierhafte wie freizügige Malereien zierten. Joachim Schuster zeigt es, beschreibt es und zieht weiter, meist nur nach nebenan, weil dort schon die nächsten Kleinode warten. Wie im Domizil des Café Lloyds, wo sich Fleischermeister Schulze einst die Druiden seines Kultes an die Decke pinseln ließ.

Dabei erhebt das Buch weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Neutralität. Gerade das macht es so unterhaltsam. Da stören auch keine hin und wieder mal stürzenden Linien in der Architekturfotografie oder sporadische Unterbelichtungen, ganz im Gegenteil, sie verleihen dem Lesebuch erst seinen Charakter. So stringent sich die Struktur der Kapitel präsentiert, so vergnüglich unorthodox wechselt der Autor zwischen historischen Fakten, literarischen Einsprengseln und den unverzichtbaren Anekdoten. Die stammen mal aus dem Archiv des Stadtteilhauses oder entspringen den Erzählungen seiner Protagonisten. Davon gibt es viele, denn Schuster schleppt die Leser gerne mit in Cafés und Kneipen.

So spazierte der Autor auch ohne zu zögern in Rosis Amüsierlokal, weil er sich die ganzen tätowierten Rock’n’Roller mal aus der Nähe anschauen wollte. Sowie das Kontor der ehemaligen Schokoladenfabrik Selbmann, die dort einst residierte. Denn für beides hat er ein Faible. „Ich hörte früher immer lieber Beatles und Stones“ erinnert er sich. Deshalb sei er auch Fan der Puhdys gewesen, weil die zu ihren Anfängen als Coverband mit den neusten englischen Titeln auf den Lippen durch die Städte tourten. In Dresden gastierten sie fast wöchentlich im Lindengarten – doch das ist eine eigene Geschichte im Buch.

Das Stadtteilhaus präsentiert das Buch „Dresdens Äußere Neustadt“ am Sonntag, 11. 11., um 16 Uhr auf seiner Bühne mit Lesungen und Musik vom Duo „Mokka Andante“