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Das schwerste Eisenbahnunglück

Bei einem Auffahrunfall zweier Schnellzüge vor 100 Jahren kommen in Dresden 38 Menschen ums Leben.

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© Sammlung Holger Naumann

Von Holger Naumann

Es ist das bisher schwerste Unglück in der Geschichte der Dresdner Eisenbahn. Und dennoch erinnert kaum etwas an den Unfall zweier Schnellzüge, bei dem am Bahnhof Dresden-Neustadt vor genau 100 Jahren am 22. September 1918 38 Menschen ihr Leben verloren, 118 Fahrgäste wurden zum Teil schwer verletzt. Die Unfallursache: Wegen einer Rot-Grün-Sehschwäche hatte einer der Lokführer ein Stoppsignal überfahren.

Es war ein Sonntagabend, als der Personenzug von Leipzig über Döbeln nach Dresden bei der Einfahrt in den Bahnhof wegen eines Lokomotivschadens liegen blieb. Der Zug D196 aus Berlin, der auf der gleichen Trasse unterwegs war, musste an einem Blocksignal weiter vorn warten. Kurz nach 22 Uhr näherte sich der Schnellzug D13 aus Leipzig und krachte auf der Brücke über dem jetzigen Pestalozziplatz in dessen Zugende. Dabei wurden dessen letzte drei Wagen praktisch ineinandergeschoben. Bei zwei weiteren Waggons wurde das Dach stark beschädigt. Der Aufprall soll so heftig gewesen sein, dass der Berliner Zug zehn Meter nach vorne geschoben wurde. Wie die Ermittlungen ergaben, hatte der Lokführer des Leipziger Zuges wegen der Sehschwäche in Pieschen das rote Halt-Signal nicht erkannt und geglaubt, freie Fahrt zu haben. An einem weiteren Signal bremste er zwar ab, doch erst 40 Meter vor dem stehenden Berliner Zug ging er zur Schnellbremsung über. Zu spät.

Der Lärm schreckte die Einwohner der umliegenden Häuser auf. Meine Mutter berichtete oft davon. Die Familie meiner Großeltern wohnte unweit auf der Coswiger Straße. Mein Großonkel, Fleischermeister Max Karl Dietrich, kam im voll besetzten Berliner Zug ums Leben.

Wie der „Dresdner Anzeiger“ berichtete, waren nach kurzer Zeit die Feuerwehr und ein Eisenbahnhilfszug zur Stelle. Für die Reisenden sei das plötzliche Verlöschen des Lichtes schrecklich gewesen, weil sie nicht sahen, was vor und hinter ihnen vorging, hieß es. Im Leipziger Zug gab es dem Bericht zufolge nur wenige Leichtverletzte.

Die Rettungsarbeiten begannen im Schein herbeigeholter Fackeln. Die nachfolgenden Züge wurden in Radebeul gestoppt, der Neustädter Bahnhof für den Zugverkehr komplett gesperrt. Wenige Wochen vor Ende des Ersten Weltkrieges befanden sich unter den Toten und Verletzten viele Militärangehörige. Die Zivilisten wurden in umliegende Krankenhäuser wie etwa nach Friedrichstadt gebracht, die Militärs in das Garnisonslazarett der Albertstadt, die Toten zum Sankt-Pauli-Friedhof. Die Dresdner Tageszeitungen veröffentlichten – heute undenkbar – ausführliche Listen mit Toten und Verletzten. König Friedrich August III. äußerte sich in einem Telegramm „tief erschüttert“ und beorderte stellvertretend Finanzminister Ernst von Seydewitz zur Unfallstelle. Dieser erschien noch ein Uhr in der Nacht. Am Vormittag des folgenden Tages kamen auch Prinzessin Mathilde, die zwei Jahre ältere Schwester des Königs, und gegen 8 Uhr Oberbürgermeister Bernhard Blüher. Schon seit den Nachtstunden strömten Schaulustige an den schrecklichen Ort.

Erst gegen 7.30 Uhr konnten die letzten Verwundeten geborgen werden. Zu den Opfern des Berliner Zuges gehörten auch die Frau und die Tochter des Lokführers sowie Louise Emma Pembaur, Gattin des Komponisten und Kapellmeisters an der Hofkirche, Karl Maria Pembaur. Am 24. September 1918 gab es in der Kreuzkirche eine Trauerfeier für die Unfallopfer.

Lokführer und Heizer des Leipziger Zuges überstanden den Aufprall mit leichten Blessuren. Wegen der Sehschwäche, die nicht bekannt war, wurde der Lokführer für das Überfahren des Halt-Signals nicht belangt. Allerdings befanden die Richter, dass er das Schlusssignal des Berliner Zuges eher hätte sehen und deshalb früher hätte bremsen müssen. Das Oberlandesgericht Dresden verurteilte ihn deshalb am 10. November 1918 wegen Transportgefährdung zu acht Monaten Gefängnis. Der Heizer erhielt die gleiche Strafe.