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Das Ende einer Leidenszeit

Seit dem Bronze-Auftritt in Rio 2016 konnte sie nicht mehr turnen. Jetzt gibt Sophie Scheder in Chemnitz ihr Comeback.

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© Robert Michael

Von Michaela Widder

Sie kann dieses Gefühl von damals nachempfinden. Sophie Scheder macht dafür einen Hopser von der Matte, steht da, schließt für den Moment die Augen, öffnet sie wieder und strahlt. „Es war der schönste Moment“, sagt sie – schwelgend in Erinnerung an die Medaillenzeremonie in Rio – , „als ich auf dem Siegerpodest stand und in den Zuschauern meine Eltern entdeckt habe.“ Die Chemnitzerin konnte ihr Glück nicht fassen: Ihr, der damals 19-Jährigen, war das beste deutsche Ergebnis am Stufenbarren seit 28 Jahren gelungen – Bronze für Deutschland. Und Blech für ihre Freundin Elisabeth Seitz – eine unbegreifliche Situation. Scheders erster Gedanke in Rio: „Oh Scheiße, jetzt ist Eli Vierte.“ Ungewöhnlich, aber typisch für sie. Auch zwei Jahre später fände Scheder es gerechter, wenn beide auf dem Podest gestanden hätten. Mickrige 0,033 Pünktchen trennten die beiden Turnerinnen. „Zwei dritte Plätze gibt es doch in anderen Sportarten auch, nur bei uns nicht.“

Es war ein riesiger Erfolg für das deutsche Frauen-Turnen. Die Außenseiterin hatte bei ihrer Olympia-Premiere den Wettkampf ihres Lebens gezeigt. Exakt 677 Tage sind seitdem vergangen, dass Scheder vor Wertungsrichtern geturnt hat. An diesem Samstag bestreitet sie bei der nationalen Qualifikation für die EM Anfang August in Glasgow ihren ersten Wettkampf seit dem Auftritt am 14. August 2016 in Rio. „Ich bin supernervös, weil es zu Hause in Chemnitz ist. Aber ich liebe es, dem Publikum diesen magischen Sport zu zeigen“, sagt sie.

Die Zwangspause vom Turnen dauerte viel länger als geplant. Die Knieschmerzen waren trotz langer Pause nach Olympia und einer Röntgen-Reiz-Bestrahlung nicht besser geworden. Auf Anraten des renommierten Sportmediziners Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt flog sie im April 2017 mit ihrer älteren Schwester Fabienne zu einem Spezialisten nach Vail in die USA. Die Operation war schwieriger als angenommen. „Meine Patellasehne war zu 70 Prozent kaputt, ich bekam eine Spendersehne von einem jungen Unfallopfer“, erklärt Scheder: „In meinem Knie wurde mal aufgeräumt.“ Die Heilung verlief ohne Komplikationen, aber dauerte. 2017 hatte die gebürtige Wolfsburgerin sowieso als „Übergangsjahr“ abgehakt und sich daher auch „keinen Stress gemacht“. Im Sommer half sie in Chemnitz als Trainerin aus. „Die Arbeit mit den Kleinen hat mir auch Mut und Kraft gegeben.“

Im Januar wollte Scheder wieder ins Gerätetraining voll einsteigen, doch nach einer Woche beim Lehrgang musste sie abbrechen. Nicht das Knie machte Probleme, sondern der Keuchhusten. Dazu kam ein hartnäckiger Virus, der auch die Ärzte vor ein Rätsel stellte. Bis März musste sie immer wieder Trainingspausen einlegen. Außerdem wurde in dieser Zeit Belastungsasthma bei ihr diagnostiziert. Als sie sich dann einen Muskelfaserriss im rechten Oberschenkel zuzog, war sie der Verzweiflung schon nah. „Für den Kopf war das ganze Auf und Ab schon anstrengend. Ständig war irgendwas“, sagt Scheder. „Aber ich wusste, nach einem Tief kommt wieder ein Hoch.“ Familie, Freund und das Trainerteam halfen in den schweren Monaten. Die Weltklasseturnerin verheimlicht nicht, sich Hilfe bei einer Psychologin gesucht zu haben. „Ich musste akzeptieren, dass mein Körper die Zeit braucht.“

Scheder turnt Mehrkampf

Allmählich läuft der 21-Jährigen die Zeit davon. Denn auch eine Medaillengewinnerin von Rio muss sich wie alle anderen zehn Turnerinnen dem Kampf um die fünf Plätze in der deutschen EM-Riege stellen. „Ich hatte sicher nicht die optimale Vorbereitung, aber ich habe hart gearbeitet, um mich so gut wie möglich zu präsentieren.“

Scheder, die ein neues Programm an ihrem Paradegerät zeigt, wird in Chemnitz einen Mehrkampf turnen. Die EM in Schottland, bei der gleichzeitig Kontinentaltitelkämpfe in fünf weiteren Sportarten stattfinden, ist nur Zwischenstation; im Oktober steht in Doha die WM auf dem Plan. „2019 finden die Weltmeisterschaften in Stuttgart statt. Spätestens dann will ich wieder ganz vorn angreifen.“ Fernziel sind die Spiele 2020 in Tokio.

Ihre erste Olympiamedaille liegt zu Hause in einer Vitrine. „Die sehe ich jeden Tag. Obwohl ich so lange raus war, haben mich die Leute nicht vergessen“, meint Scheder und beobachtet hin und wieder mit einem Schmunzeln, wie die Chemnitzer in der Innenstadt rätseln, wenn sie an ihr vorbeilaufen. Ist sie es oder nicht? „Turnen bleibt eine Randsportart. Wenn wir es durch unsere Erfolge etwas populärer machen können, ist das doch schön.“

Gabriele Frehse, die in der Halle alle nur „Gabi“ nennen, ist die Architektin der Erfolge. Trainingskollegin Pauline Schäfer hatte sie im Herbst sensationell zur Weltmeisterin am Schwebebalken geführt. Am Samstag steht die erste Bewährungsprobe 2018 für ihre Meisterschülerinnen an. „ Ich möchte den Leuten auch etwas zurückgeben, die mich immer unterstützt haben“, meint Scheder – vor ihrem Neuanfang nach der Leidenszeit.