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Das Dorf lebt

Vor einem Jahr prophezeite eine Studie das Aussterben ganzer Ortschaften. Andere Wissenschaftler halten nun dagegen.

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© Steffen Unger

Von Franz Werfel

Sächsische Schweiz. Wohl selten gab es eine Studie, die das ländliche Sachsen so sehr aufgemischt hat. Vor einem Jahr machte das Berliner Empirica-Institut sein Papier „Schwarmverhalten in Sachsen“ öffentlich. Die Analysten hatten im Auftrag der Sächsischen Aufbaubank sowie den Verbänden der Wohnungsgenossenschaften und der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft Daten des Statistischen Landesamtes ausgewertet. Sie kamen zu dem Schluss, dass Schwarmstädte wie Leipzig und Dresden extrem viele Menschen anziehen und kleinere Städte wie Pirna, Heidenau, Freital und Kreischa ebenfalls wachsen, aber deutlich langsamer.

Auf der anderen Seite zählte Empirica 391 der 422 sächsischen Gemeinden zu „ausblutenden Regionen“ – also gut 90 Prozent aller Orte. Im Landkreis gehörten dazu unter anderem Altenberg, Müglitztal, Rosenthal-Bielatal und Neustadt. Diesen Gemeinden empfahl das Institut eine Art „palliative Sterbebegleitung“ und riet davon ab, künftig überhaupt noch zu investieren. Politik und Bevölkerung reagierten mit großem Unverständnis.

Um an dieser Stelle weiterzudiskutieren, lud Landrat Michael Geisler (CDU) vergangene Woche zusammen mit dem Verein Landschaft Zukunft nach Bad Schandau. Die SZ fasst die fünf wichtigsten Aspekte der Diskussion zusammen.

Aspekt 1: Der Freistaat teilt die Schlussfolgerung der Studie nicht

Die Landesregierung, das machte Henning Kuschnig vom sächsischen Umweltministerium deutlich, war über die Studie sehr verärgert. „Empirica hat dem ländlichen Raum geschadet“ sagte er. Kuschnig erinnerte daran, dass Sachsen selbst in abgelegenen Orten im deutschen und europäischen Vergleich noch recht dicht besiedelt ist. Mit Blick auf die Schwarmstädte sagte er: „Derzeit ziehen wieder mehr Menschen aus Dresden und Leipzig weg als neu hin.“

Gleichwohl kenne man die Herausforderungen. „Wir brauchen eine gute Infrastruktur, öffentlichen Nahverkehr, Schulen, Kitas, ärztliche Versorgung, Hochkultur“, zählte Kuschnig auf. Letztere gebe es im Landkreis ja bereits, etwa mit den Gohrischer Schostakowitsch-Tagen. Die Dörfer müssten weiter an ihrer Willkommenskultur, gerade für junge Familien, arbeiten. Langfristig brauche man zudem mehr Arbeitsplätze für Akademikerinnen, so Kuschnig. „Nur Ingenieursjobs in der Industrie reichen auf Dauer nicht aus.“

Aspekt 2: Sachsen muss planen, wie es mit der Landbevölkerung umgehen will

Max Winter, Abteilungsleiter für Landesentwicklung im sächsischen Innenministerium, verwies auf den aktuellen Plan zur Landesentwicklung. „Der Freistaat strebt an, dass alle Bürger in allen Regionen gleichwertig leben können. Überall sollen sie sich ihren Ansprüchen gemäß verwirklichen können“, so Winter. Gerade weil die Bevölkerung auf dem Land künftig älter sein wird und manches Dorf Einwohner verlieren werde, müsse eine gute Verkehrsanbindung stets gewährleistet sein.

Aspekt 3: Die Dörfer sterben nicht wirklich aus

Das sagte Annett Steinführer vom Thünen-Institut Braunschweig. Die Soziologin forscht im Auftrag des Bundes zu ländlichen Räumen. Steinführer wollte vor allem drei Fakten in die Diskussion einbringen. Erstens gebe es den „ländlichen Raum“ pauschal nicht. Jede Region unterscheide sich in ihren besonderen Eigenschaften und speziellen Ausprägungen von anderen. Zweitens werde in Deutschland schon seit den 1970er-Jahren von „sterbenden Dörfern“ gesprochen. „300 Orte mit insgesamt 100 000 Einwohnern sind zwischen 1951 und 2008 dem Bergbau im Ruhrgebiet, im Großraum Halle-Leipzig und in der Lausitz zum Opfer gefallen. Aufgrund der Demografie ist aber noch nie ein Dorf gestorben.“ In Langzeitstudien werde deutlich, dass viele Dörfer vor allem durch Todesfälle Einwohner verlieren. Aber es würden auch immer Leute neu aufs Land ziehen.

Drittens bleibe das Land auch künftig ein Sehnsuchtsort für viele Menschen. 2010 hatte das Bundesinstitut für Raumforschung gefragt: Wo möchten Sie am liebsten wohnen, wenn Sie frei entscheiden können? Das Ergebnis: Ein Drittel der Erwachsenen unter 30 Jahren und je die Hälfte aller älteren Altersgruppen will entweder auf dem Land oder in einer Kleinstadt leben. Das Fazit der Forscherin Steinführer: „Das einseitige Bild, dass fast alle aus den Dörfern nur wegziehen wollen und keiner mehr hinzieht, stimmt ganz klar nicht.“

Aspekt 4: Was jetzt zu tun ist – Versorgung, Verkehr, Internet

Auch die Dorfbewohner, so Annett Steinführer, werden immer älter, leben länger und bleiben dabei länger mobil. „Deshalb muss die Politik Angebote schaffen, dass die Einwohner ihr Leben auch gut bewältigen können.“ Bei einer Befragung der Bundesregierung vor sieben Jahren hatten sich Dorfbewohner vor allem Folgendes gewünscht: eine gute ärztliche Versorgung, Arbeitsplätze, zumindest den Erhalt der aktuellen Infrastruktur, einen guten öffentlichen Personennahverkehr, schnelles Internet, Einkaufsläden, Schulen, Kitas und kulturelle Angebote – gerade auch für Jugendliche. Alle diese Aspekte sind seit Langem bekannt.

Aspekt 5: Die Reaktionen der Bürger – mehr Unterstützung vom Land

Ein Rentner, der vor Kurzem von Bonn nach Bad Schandau gezogen ist, sagte, dass die ärztliche Versorgung sehr schlecht sei. „In Pirna habe ich ein paar Orthopäden zur Auswahl – wenn ich denn einen Termin bekomme.“ Bad Schandau sei mit Fähre und S-Bahn noch relativ gut ans Verkehrsnetz angebunden. „Aber in Bad Gottleuba sieht es gleich viel schlimmer aus.“ Ohne Auto sei es schwer. „Es stimmt ja, dass viele Leute aufs Land wollen. Aber sie haben Angst, dann abgehängt zu sein“, sagte der Mann.

Neben anderen Bürgermeistern war auch Hohnsteins Stadtchef Daniel Brade (SPD) bei der Diskussion anwesend. Er sagte, dass es ja schön sei, wenn der Freistaat überall gleichwertige Lebensverhältnisse ermöglichen wolle. Dafür müsse er aber die kommunale Selbstverwaltung stärken. „Alle kleinen Gemeinden und Städte haben Probleme, Investitionen umzusetzen“, so Brade. Es fehle an Mitarbeitern in der Verwaltung, die diese planten, und an Geld, um Projekte finanzieren zu können. In Richtung Landesregierung sagte er: „Die, die die Regionen lebenswert erhalten sollen, brauchen Ihre Hilfe.“