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Danke, Herr Schabowski

Wie Robert Lehmann als Schüler in Hoyerswerda eine persönliche Lektion in Sachen Grenzöffnung erhielt und warum ihn diese Geschichte bis heute begleitet.

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© Wolfgang Wittchen

Von Wolfgang Wittchen (Fotos) und Olaf Kittel (Text)

Als er sich ein Herz fasste und nach vorn ging zum Referenten, war der Vortrag von Günter Schabowski am Hoyerswerdaer Gymnasium Johanneum gerade vorbei. Eigentlich war solches Musterschüler-Verhalten auch nicht sein Ding, aber ein Gespräch mit dem Vater am Vorabend ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Da hatte er, der 1988 Geborene, seinen Papa zunächst gefragt, wer denn dieser Schabowski eigentlich sei. Daraufhin sprach der Vater lange über das ehemalige Politbüromitglied und die berühmte Pressekonferenz, auf der Schabowski praktisch aus Versehen „unverzüglich„ die Grenze öffnete und damit einen Prozess unglaublicher Entwicklungen in Gang setzte. Sein sonst politisch so sachlich argumentierender Vater wurde dabei ungewohnt emotional.

Jetzt trafen wir ihn als jungen Chef einer Physiotherapie wieder und fotografierten ihn am Schabowski-Pult.
Jetzt trafen wir ihn als jungen Chef einer Physiotherapie wieder und fotografierten ihn am Schabowski-Pult. © Wolfgang Wittchen
Der Fotograf Wolfgang Wittchen lebt in der Lausitz und hat in den vergangenen Jahrzehnten wie kaum ein anderer diese Region optisch dokumentiert.
Der Fotograf Wolfgang Wittchen lebt in der Lausitz und hat in den vergangenen Jahrzehnten wie kaum ein anderer diese Region optisch dokumentiert. © Foto: MKL-NEWS/Marco Klinger

Robert hatte das nicht losgelassen, und so fragte er am nächsten Tag, es war der 6. März 2007, Günter Schabowski: Ist Ihnen schon auf der Pressekonferenz bewusst gewesen, dass Sie die Welt verändern?

Die Antwort fiel nicht so kurz aus wie die Frage. Schabowski sprach viel und gestenreich von Missverständnissen und dass doch damals die Grenzöffnung schon keine so große Überraschung mehr war. An den genauen Inhalt kann er sich nicht mehr erinnern. Immerhin bedankte sich der Schüler artig, er weiß es noch, „für diesen wichtigen Schritt in die richtige Richtung“.

Elf Jahre später kommt Robert Lehmann im großen BMW an seiner ehemaligen Schule vorgefahren, 29 Jahre jung, blond, sportlich, selbstbewusst. Hier trifft er Günter Kiefer, Schulleiter am Johanneum, auch schon zu seinen Zeiten. Kiefer war es, der die Spur zu seinem ehemaligen Schüler wiederfand. Beide sind sich schnell einig, dass lebendiger Geschichtsunterricht über die DDR heute genau das Richtige ist. Gerrade weil diese Zeit vielen Schülern bereits wie das Mittelalter erscheint, wenig interessant jedenfalls.

Hinzu kommt, dass heute die Eltern der meisten Schüler die DDR selbst nur noch als Kinder erlebt haben und Gespräche darüber daheim folglich seltener werden. Robert Lehmann bestätigt: „Die DDR war damals auch nicht mein Lieblingsthema. Aber unser Geschichtslehrer Herr Oswald war toll. Er konnte uns Schüler mit seinen Themen fesseln, er fand Zugang zu uns.“

Für Günter Kiefer gehört das zum Konzept der Schule. Zwei große Geschichtsprojekte laufen hier seit Jahren. „Wider das Vergessen“ über die Zeit des Faschismus und „Zur Zukunft gehört die Erinnerung“ über die DDR-Zeit. Schüler erforschen die jüngere Vergangenheit, so zuletzt über das Bildungswesen in der DDR, über Kirche und über Pressefreiheit.

Anspruchsvolle Themen, zu denen Schüler in Hoyerswerda nach Spuren suchen, Zeitzeugen befragen und sogar Zugang zu Spezialbibliotheken erhalten. Am Schuljahresende werden die Ergebnisse dokumentiert und in einer großen Veranstaltung öffentlich vorgetragen.

Für Robert Lehmann ist der Geschichtsunterricht nur ein Grund, warum er seine alte Schule, eine freie Schule mit christlicher Orientierung, in so guter Erinnerung behalten hat. Er lobt den Unterricht, die Lehrer, vor allem aber das kulturvolle Klima ohne Gewalt und mit gegenseitigem Respekt von Schülern und Lehrern.

Die Schule, die 1991 als eine Reaktion auf die brutalen Ausschreitungen gegen Ausländer in Hoyerswerda gegründet wurde, hat sich einen guten Ruf erworben, der über die Landesgrenze hinweg bis nach Brandenburg reicht. Deshalb hat der Brandenburger Robert Lehmann in der elften und zwölften Klasse den Weg täglich von Senftenberg nach Hoyerswerda auf sich genommen, um hier zur Schule zu gehen. „Das Christliche hörte man sich an, musste es aber nicht annehmen.“ Eine Rolle hat sicher auch gespielt, dass man damals in Brandenburg noch 13 Jahre bis zum Abitur brauchte.

Günter Kiefer klingen angesichts der Lobeshymnen die Ohren. Er, der aus dem Saarland stammt und die Grenzöffnung aus einer anderen Perspektive erlebte, ist von Anfang an im Johanneum dabei, zunächst als Fachlehrer für Latein und Griechisch, seit 14 Jahren als Schulleiter. Er hat großen Anteil am guten Ruf der Schule. Er ließ sich nicht entmutigen, auch durch schwierige Stimmungen in Hoyerswerda nicht, als die Stadt von 72 000 auf 30 000 Einwohnern schrumpfte und sich die Lebensqualität schon deutlich unterschied von der gewohnten in seiner Heimat.

Und als die Schülerzahlen sanken, wurde im Johanneum nicht geklagt, sondern noch eine Oberschule gegründet, die die leeren Klassenzimmer füllt. Wichtige Voraussetzung, um auf diese Schule gehen zu können, ist übrigens die Verhaltensnote. Der gute Ruf soll nicht leiden. Der ist auch Kiefers Hauptargument, um heute junge Lehrer an die Schule zu locken. Mit Beamtenstatus kann er an einer freien Schule nicht werben, mit guten Gehältern auch nicht. Bisher hat er es hinbekommen.

Auch Robert Lehmann ist heute froh, eine so gute Schule besucht zu haben, es kam ihm direkt in der beruflichen Ausbildung zugute. In Kreischa ließ er sich zum Physiotherapeuten ausbilden und konnte gleichzeitig seinen Bachelor machen. Danach arbeitete er sechs Jahre als Physiotherapeut in Dresden und war eigentlich zufrieden mit sich und seinem Leben. Fast zufrieden.

Doch der Wunsch nach Selbstständigkeit wurde immer größer, und das Heimweh wurde es auch. Nachdem er einiges Geld gespart hatte, verband er beides: Er zog zurück in die Nähe von Senftenberg und gründete seine eigene Firma. Inzwischen hat er vier Angestellte, und es könnten durchaus noch einige mehr sein, denn die Wartezeit für Neukunden beträgt bei ihm acht Wochen. Aber Fachkräfte sind auch hier rar und kaum noch zu bekommen. Robert Lehmann hat bereits einen Beschwerdebrief an den Gesundheitsminister in Berlin geschrieben.

Auch privat fand er sein Glück. Mit seiner Partnerin baute er sich ein Haus in Koschen, nicht weit entfernt vom Senftenberger See. Seine Kinder sollen mal auf dem Land aufwachsen, am Wasser, in der Nähe der künftigen Großeltern. Die Familienplanung ist also weit fortgeschritten. Und wenn er und seine Partnerin mal Abwechslung brauchen, dann düsen sie rasch nach Dresden, gehen zum Konzert in die Junge Garde oder einfach nur essen. Auch Berlin ist von hier nicht so schrecklich weit weg.

Robert Lehmann freut sich, dass immer mehr junge Leute es so sehen wie er und nach den Jahren des großen Umbruchs in die alte Heimat zurückkehren. In seinem Freundeskreis kann er das erkennen, aber auch wenn er Patienten zu Hause besucht. Selbst in Dörfern rings um Hoyerswerda, die schon auszusterben drohten, entdeckt er neues Leben.

Wirklich alles gut? „Ja, ich kann nicht klagen. Es läuft. Manchmal denke ich daran, was mit mir passiert wäre, wenn es die Grenzöffnung nicht gegeben hätte. Also: Dank an Herrn Schabowski“.

Und seine Kinder – wenn die mal da sind und das nötige Alter haben – will er aufs Johanneum schicken. Natürlich.