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Bewegender Abschlusstanz

Ballett ist Sophie Hauenherms Leben. Nach ihrer schweren Krankheit erfindet sie sich als Tänzerin neu.

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© dpa/Monika Skolimowska

Von Jörg Schurig

Die Bachelor-Arbeit von Sophie Hauenherm wirkt explosiv. Es knistert förmlich im Tanzsaal der Palucca-Hochschule, als die 18-Jährige ihren Platz auf der Bühne einnimmt. Die junge Frau ist Tänzerin wie ihre Kommilitonen, doch sie tanzt nicht wie sie. Nach einer schweren Krankheit ist Sophie auf den Rollstuhl angewiesen. Was ihre Beine nicht mehr leisten können, schafft der Rest ihres Körpers nun umso intensiver. Um auszudrücken, was sie sagen will, braucht Sophie ihre Beine nicht.

Doch ihr Körper drückt all ihre Kraft, Liebe und Hoffnung aus.
Doch ihr Körper drückt all ihre Kraft, Liebe und Hoffnung aus. © dpa/Monika Skolimowska

Behind human understanding – Hinter dem menschlichen Verständnis – hat sie ihre Choreografie genannt. Damit greift sie eine Überlegung Albert Einsteins auf, der seinerzeit für ein grundsätzlich neues Denken warb. Auch weil der Mensch nicht selten ein Gefangener seiner eigenen Gedanken ist. Als Sophie Hauenherm im Herbst vergangenen Jahres die Idee für diese Choreografie kam, konnte sie noch ganz anders tanzen: „Ich habe das Konzept behalten, musste aber die Bewegungen komplett umstellen“, sagt sie.

Im Studium Härte gelernt

Im Dezember ist Sophie das letzte Mal im Palucca Tanzstudio aufgetreten, damals schon mit starken Rückenschmerzen. Die Ärzte vermuteten muskuläre Verspannungen. Schließlich ließ sich die Paluccaschülerin selbst ins Krankenhaus einweisen. Eine wirklich tiefgründige Untersuchung bekam sie jedoch erst, als sie ihre Beine nicht mehr bewegen konnte. Ein Abszess war immer größer geworden und hatte die Nerven abgedrückt. Seither ist Sophie ab der Hüfte gelähmt. Sie spricht von einer „inkompletten Querschnittlähmung“, weil die Nerven nicht ganz getrennt sind: „Das ist mein Glück“, sagt sie und hofft auf Besserung. Fünf Monate hat sie im Krankenhaus verbracht, bald beginnt die Reha, und der Bachelorabschluss ist ihr nächstes Ziel.

Der Gedanke, ihre Choreografie von einer Mitstudentin interpretieren zu lassen, ist ihr nie gekommen. „Ich tanze das Stück selbst, nur dass ich im Stuhl sitze und die Funktionen nutze, die ich habe.“ Sie sei nicht neidisch auf andere, die nun ihre Pirouetten drehen und Beine in die Höhe werfen können: „Das ist meine Bachelorarbeit. Ich war jahrelang Teil dieser Schule, Teil dieser Klasse. Egal, wie mein Leben in beruflicher Hinsicht weiterläuft. Tanz wird immer ein Teil meines Lebens bleiben.“ Deshalb empfinde sie die Bachelorarbeit als Befriedigung: „Das bedeutet mir viel.“

Sophie Hauenherm wollte ihr Studium unbedingt mit den anderen abschließen. Zu denen gehören Lina Meißner und Leon Damm. Die beiden 19-Jährigen sind bei der Prüfung unmittelbar vor ihrer Kommilitonin an der Reihe. Lina verkörpert das, was sich viele unter einer klassischen Ballerina vorstellen. Ihre Bewegungen sind grazil, harmonisch und wie aus einem Guss – Sinnbild für die Schönheit des Tanzes.

Sophies Schicksal ist Lina und Leon sehr nahegegangen. „Das war ein Schock“, erinnert sich der Dresdner. „Ich wusste, dass sie Schmerzen hatte und auch mit sehr starken Schmerzen noch getanzt hat.“ Doch als die Nachricht kam, sie liege nun gelähmt im Krankenhaus, habe er das kaum glauben wollen. Später zu Besuch in der Spezialklinik, die Sophie behandelte, ging es trotzdem nicht traurig zu. Gemeinsam sahen sich die Studenten Tanzvideos auf dem Handy an.

Die Episode offenbart einen Teil der Palucca-DNA. Tanz wird hier als Schule fürs Leben definiert. Die jüngsten Schüler besuchen die fünfte Klasse, die Älteren studieren Tanz, Tanzpädagogik und Choreografie. Schulgründerin Gret Palucca, die 1993 starb, verehren sie bis heute. Disziplin, Durchhaltevermögen, Selbstständigkeit und Gemeinschaftsgefühl sind Tugenden, die in familiärer Atmosphäre vermittelt werden. Als Sophie im Krankenhaus lag, sind auch Dozenten mit Kuchen vorbeigekommen. Eine Mitarbeiterin aus dem Kostümfundus schickte jede Woche einen Brief oder ein Päckchen mit lieben Worten, Gummibären, selbst gebackenem Bananenbrot oder Bastelanleitungen.

„Die Erfahrungen aus dem Studium haben mir geholfen, die Erkrankung zu bewältigen“, sagt Sophie. Andere Patienten des Therapiezentrums haben zusätzlich unter Heimweh gelitten. Da sie in Dresden im Internat lebte, sei das für sie kein Thema gewesen. „Ich bin vom Typ her nicht jemand, der sich hängen lässt und den Kopf in den Sand steckt.“ Nach der Diagnose sei klar gewesen, dass sie nun erst mal an den Rollstuhl gebunden ist und Hilfe anderer Menschen benötigt. „Ich habe mir aber immer gesagt: Ich schaffe das, ziehe das durch, mache jede Therapie mit, alles, was ich kann. Ich will wieder laufen.“

Mit kleinen Schritten voran

Palucca-Rektor Jason Beechey ist stolz auf seine Studierenden. Der aktuelle Absolventenjahrgang im Studiengang Tanz sei „klein, aber fein.“ Alle elf Frauen und Männer sind vom Typ her unterschiedlich, aber trotzdem eng zusammen, berichtet Beechey: „Über 80 Prozent von ihnen haben bereits einen Vertrag in der Tasche. 2013 gab es einen Jahrgang, da waren es sogar alle.“ Wenn er das heutige Studium mit seiner eigenen Lehrzeit vergleicht, findet der Kanadier deutliche Unterschiede. Damals habe man viele Methoden auf Druck aufgebaut. Heute herrsche in der Ausbildung eine ganz andere Mentalität.

Das lässt sich auch bei der Durchlaufprobe für die nun anstehende Abschlussprüfung vor Publikum spüren. Neben der Choreografie und der Interpretation müssen sich die Studierenden zudem um Musik, Kostüm und das Programmheft kümmern. Ted Meier agiert als Produzent der Aufführung und fühlt sich selbst ein bisschen wie ein „Vati“. Er gibt Hinweise zu Bewegungen, zum Licht und selbst zur Wirkung der Kostüme. Die Tänzerinnen Lina und Sophie begrüßt er an diesem Abend akademisch würdevoll mit Frau Dr. Meißner und Frau Dr. Hauenherm. Im Saal wird viel gelacht, auch das scheint ein Markenzeichen der Palucca Hochschule zu sein.

Als sich Sophie aus ihrem Rollstuhl auf einen anderen Stuhl hievt, muss sie erst einmal kurz verschnaufen. „Ich habe Spastiken“, sagt sie erklärend in die Runde. „Komm‘, die hattest du doch schon früher“, witzelt Ted Meier und bringt sie damit zum Lachen. Nach dem Auftritt ist der Dozent begeistert: „Das war großartig, das war spektakulär. Du kannst ja sogar noch mit dem Arsch wackeln.“ Als Sophie nicht mehr im Raum ist, drückt er seinen ganzen Respekt vor der jungen Frau aus: „Ich ziehe den Hut vor ihr. Sophie ist eine echte Durchbeißerin. Sie wird Standing Ovations bekommen.“

Der Tag der Prüfung naht. Wenn sie vorbei ist, trennen sich die Wege der Absolventen. Leon Damm hat mit dem ersten Vortanzen einen Vertrag am Theater im Pforzheim bekommen, Lina Meißner geht ans Saarländische Staatstheater – und Sophie zur Reha nach Kreischa. Dort werden ihre Tage gut gefüllt mit Krankengymnastik, Stromtherapie, Sport, Alltagstraining, Gangschule, Wassergymnastik, Massage und Luftsprudelbad sein.

Die Ärzte wissen noch nicht, wie viele Funktionen ihr gelähmter Körper wieder aufnehmen wird und ob das überhaupt gelingt, sagt Sophie. Mittlerweile könne sie auf Unterarmstützen schon bis zu 200 Meter laufen: „Die Zukunft bleibt offen. Jetzt konzentriere ich mich erst einmal auf die Ziele, die ich Schritt für Schritt erreichen kann: 100 Meter weiter laufen, eine Sekunde länger auf einem Bein stehen.“ Wie ihr Leben in drei Jahren aussehen soll? Das kann Sophie nicht sagen. Aber: „So, wie es in den vergangenen sechs Monaten vorangegangen ist, bin ich optimistisch.“ (dpa)