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Und dann kam Uschi

Schmetterlinge im Bauch mit Ende 80? Liebe im Alter ist immer noch ein Tabuthema. Und verspricht doch eine Menge Glück.

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© Regina Hamborg

Von Regina Hamborg

Damit hätte Hildegard in ihrem Leben nicht mehr gerechnet: Dass sie noch einmal Herzklopfen hat. Schmetterlinge im Bauch wie mit 17. Nur locker 70 Jahre später. Sie ist von Werne in Nordrhein-Westfalen nach Radebeul in die Nähe ihrer Kinder gezogen, um gut versorgt zu sein. Die Angst reist mit. Wird sie sich noch einmal in einer neuen Umgebung einleben können? Einen alten Baum verpflanzt man nicht. Ihren geliebten Ehemann Manfred hat sie früh verloren – aber nie vergessen. Auch nicht in den über 40 Jahren, die sie mit ihrem Lebensgefährten Otto zusammen war. Nun ist auch er verstorben. Was sollte da noch kommen? Mit 88?

Die ersten Wochen ruft sie vom betreuten Wohnen aus immerzu bei ihren Kindern an: „Wo seid ihr denn?“ „Wir sind arbeiten, Mutti! Wir kommen dich am Wochenende besuchen. Versprochen!“ Doch plötzlich werden die Anrufe seltener. Es hat sich etwas Interessantes ereignet: „Er hat immer einen Platz gesucht neben mir, und da denk ich so, was will der denn von mir?“, lacht Hildegard schelmisch. Gustav heißt der Tischnachbar, der ihr seit geraumer Zeit den Hof macht und sie nicht mehr aus den Augen lässt. Liebevoll schiebt der 87 Jahre alte Kavalier sie im Rollstuhl zu Tisch, hält ihr die Tür auf – und schließlich sogar ihre Hand. Allen fällt auf, wie sich die beiden verändert haben. „Er hat immer auf seinem Zimmer auf der Couch gelegen und war einsam“, bemerkt Gustavs Betreuerin. „Da hab ich zu ihm gesagt, guck doch mal, ob du einen netten Herrn findest oder eine Frau. Hier sind doch viele, die noch ziemlich rüstig sind. Aber da war nichts zu machen. Da dachte ich: Na ja, wenn er nicht will. Und dann kam die Hildegard!“

„Um getroffen zu werden, ist das Alter ganz egal“, sagt Silvia Fauck, Expertin in Herzensangelegenheiten. Sie führt in Berlin seit mehr als zehn Jahren als Coach eine Liebeskummerpraxis. „In der Sekunde, in der man sich verliebt hat, gibt es keinen Altersunterschied. Wenn Amor zugeschlagen hat, sind wir so voller Glückshormone, da interessiert wirklich gar keinen, bin ich 25, 60 oder 81! Und dieses Verliebtsein baut derart Kräfte auf! Ich sehe das auch an meinen ältesten Klienten; der älteste war Mitte 70. Er kam in meine Praxis, aufrecht, Schultern extra breit. Da wusste ich sofort, der hatte gestern ein Date! Und die Frauen strahlen. Völlig altersunabhängig. Dem Himmel sei Dank, dass das so ist, kann ich nur sagen!“

Hildegard und Gustav verbringen ihre Tage nur noch gemeinsam. Halten Händchen stundenlang. Und küssen sich ungeniert – auch in Gegenwart anderer. „Die Küsse von Hildegard sind ja so süß, da haben wir nicht aufgehört. Und das ist so gegangen – bis in die Nacht hinein“, gesteht Gustav. Er lächelt versonnen. Auch die Nächte möchten sie nicht immer allein in ihren Wohnungen – und damit getrennt voneinander – verbringen. Am Anfang wurde das eher argwöhnisch beäugt. Ein Liebespaar mit Ende 80? Auch für die Pflegerinnen und Pfleger keine Alltäglichkeit, weiß der Neffe von Hildegard zu berichten. „Das kennt man gar nicht so, dass sich alte Menschen so finden. Das ist für die auch etwas Neues. Und da ist das manchmal auch so, dass man reinplatzt, ohne vorher anzuklopfen. Das ist immerhin eine Privatsphäre. Aber ich denke, mittlerweile haben sich alle Seiten daran gewöhnt. Es wird respektiert, dass die beiden einfach zusammengehören. Die Hildegard gibt es nur im Huckepack mit Gustav. Und umgekehrt!“

Es sei nicht so ungewöhnlich, dass sich zwei Menschen im Altersheim noch finden, so Liebesexpertin Silvia Fauck. „Mein Großvater hat ja mit über 80 seine Haushälterin noch geheiratet. Und seinen Kindern übrigens nichts erzählt. Aber ich glaube, das war nicht der Grund. Da war noch viel mehr, das hat er sich nur nicht zu sagen getraut!“

Jeder weiß es, jeder sieht es, aber darüber gesprochen wird nicht viel. Liebe „im Alter“ – immer noch eine Tabuzone, so Professor Christian Zippel, Gerontologe aus Berlin, der sich wissenschaftlich mit dem Thema Liebe im Alter auseinandersetzt. „Es gibt Umfrageergebnisse, dass 95 Prozent aller Ärzte, aller Pflegenden die Sexualität und die Liebe im Alter für wichtig halten. Aber 65 Prozent aller künftigen Ärzte und auch Pflegende haben angegeben, dass sie zu diesem Thema nie etwas in ihrer Ausbildung gehört haben. Weshalb dann auch große Unkenntnis entsteht.“

Dabei gehe es beim Sex im Alter nicht unbedingt um die Ausübung der Sexualität, wie man es in jungen Jahren gewöhnt ist. Egal, in welcher Form, Fakt ist, so Professor Christian Zippel, Liebe ist ein Lebenselixier. „Man weiß zum Beispiel, dass sexuell aktive Paare bis zu 50 Prozent weniger Herzkrankheiten haben, weil Sexualität ein Stimulus für die Gesundheit ist. Es gibt Adrenalin-Ausstöße, es gibt auch allgemeine Aktivitäten, die von der Liebe ausgelöst werden, man unternimmt einfach viel mehr, man ist mehr in Bewegung. Alter und Bewegung – das ist ein großes Thema in der Altersheilkunde, und da ist Liebe, Partnerschaft, alles, was dazugehört im Alter, eine äußerste Hilfe für jeden Arzt, der sich damit befasst hat. Leider wird das immer noch zu wenig beachtet.“

Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt derzeit für Männer 78 Jahre, für Frauen sind es 83 Lebensjahre. Nicht allen Paaren ist es vergönnt, das hohe Alter gemeinsam zu erreichen. Vor allem Frauen bleiben im Alter allein. Sie haben es allein schon aus demografischen Gründen schwerer, sind sie doch viel häufiger verwitwet als Männer. So hat ein Drittel der Frauen zwischen 70 und 80 Jahren und zwei Drittel aller Frauen im Alter ab 80 den Ehepartner durch den Tod verloren und nicht wieder geheiratet.

„Du hast immer die Angst, es passiert nie wieder. Ich habe mein Leben gelebt. Ich bin zu alt, wer soll sich noch für mich interessieren?!?“ Das sind die Ängste ihrer Klienten, die bei Liebescoach Silvia Fauck das Herz ausschütten. Es sei nicht einfach im Alter, noch einmal einen Treffer zu landen. „Wir haben ja Ansprüche, wenn wir um die 60plus sind, an einen Partner, eine Partnerin. Der ist mit viel Glück gesegnet, wenn sich das auch dann tatsächlich noch einmal so trifft!“

Sie haben dieses Glück: Uschi und Manfred. Beide haben ihre Partner an den Tod verloren. Beide haben für sich entschieden: Allein bleiben „bis zum Schluss“? Nein! Die beiden Dresdner halfen Amor auf die Sprünge – mit einer Partnervermittlung.

„Ich hatte ja im Vermittlungsgespräch angegeben, bis 70, und dann bekam ich einen Brief mit jemandem, der 74 ist. Vier Jahre älter, als ich es mir mit 69 gewünscht hatte. Da war für mich schon wichtig, ist es so ein Opa, der nur noch im Sessel sitzt, oder ist es jemand, der mehr Power macht.“ Ihre Freundinnen hätten abgeraten. Sie solle sich doch jemanden suchen, der jünger ist „Der hält viel länger durch mit dir, das kann doch alles wieder passieren, dass der Partner eher geht. Und dann machst du das alles noch mal durch.“ Eine Freundin aber sagte: „Und wenn’s ein Jahr ist. Genieß es!“

Manfred kam, sah – und siegte. Kein „Opa-Typ“, der lange im Sessel sitzt. Nach einem ersten Date waren sie beim Stadtfest unterwegs. „Es war Abend geworden, ich stand da mit meinem Fahrrad vor unserem Fahrradpavillon, und da hat er mich in den Arm genommen und hat mich das erste Mal geküsst. Und da hat’s richtig gekribbelt!“ Liebe auf den ersten Blick? „Nein, das war’s nicht“, sagt Manfred. Bei ihm sei es nach dem zweiten, dritten Treffen passiert. „Meine Herren, dachte ich dann, in dem Alter?! Noch mal so ein Glück zu haben, noch mal so eine Frau, so einen Partner zu treffen, das ist schon etwas Besonderes!“

Uschi konnte sich von ihrem Ehemann in Ruhe verabschieden. Was soll werden, wenn er nicht mehr da ist? Sie sollte nicht zu Hause hocken, wenn sie das nicht möchte. Das habe ihr Mann ihr mit auf den Weg gegeben. Bei Manfred war es anders. „Der Tod kam abrupt. Ich musste selbst entscheiden, wie es weitergeht. Ich musste mich selbstständig machen. Ich brauchte keine Frau zum Wäschewaschen, zum Aufwaschen, Bügeln. Das mach ich alles selbst.“

Seit drei Jahren sind sie ein Paar, verbringen fast jeden Tag zusammen, sind viel auf Reisen von Dubai bis Cuba unterwegs. Endlich einmal all das tun, was früher durch die Arbeit nicht möglich war. „Die Uschi“, sagt Manfred, „die reißt mich mit.“ Von den Kindern seien nur positive Rückmeldungen gekommen. Nein, sie hätten keine Angst, „die Oldies“ könnten das Erbe verprassen. Ein Teil der Familie lebt in München. Sie seien ja weit weg, und es sei doch ihr Leben, so Uschis Kinder. Schön, wenn es im Leben der Mutter noch einmal einen lieben Menschen gebe.

Dass sie beide noch einmal eine so schöne Zeit erleben dürfen, hätten sie nicht erwartet. Wo andere nur das Alter sehen, entdecken sie den Zauber der gelebten Jahre.

Mittwoch, 20.45 Uhr, im MDR: Exakt die Story: Einmal noch ein spätes Glück Vom Suchen und Finden mit 70plus.