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Tatort Jakobstunnel

Fahrscheinkontrolleure schlagen in Görlitz einen Jugendlichen nieder. Oder nicht? Eine Geschichte mit sieben Fragezeichen.

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© dpa

Von Ralph Schermann

Görlitz. Als die Nachmittagssonne noch wärmt, feiern drei junge Görlitzer Geburtstag. Tim, Tom und Toby suchen sich dafür an einem Freitag im Oktober das Volksbadgelände aus. „Wir tranken jeder zwei, drei Bier“, erzählt der 17-jährige Tom. Gegen 19 Uhr machen sie sich auf den Weg zur Haltestelle Erich-Weinert-Straße. Sie wollen mit der Straßenbahn in die Innenstadt. Tim und Tom haben kein Geld, aber Toby hat welches. Er löst für alle um 19.24 Uhr Tickets, die um 19.30 Uhr in der Bahn entwertet werden. Als die Tram am Südausgang anhält, springt Tom heraus, rennt zum Jakobstunnel. Kontrolleure rennen hinterher. „Einer packte mich, knallte mich an die Tunnelwand, riss mir die Arme nach hinten, warf mich hin, trat mir ins Gesicht“, berichtet der Jugendliche.

Michaela Mehls von der Dussmann Gruppe, die die Görlitzer Ticket-Kontrolleure einsetzt, schildert es anders. Als die Kontrolleure einstiegen, habe es für diese so ausgesehen, als wollte jemand wegrennen, um sich der Kontrolle zu entziehen. Das Festhalten von Personen, gegen die Straftatverdacht besteht, ist ein Jedermannsrecht, und Schwarzfahren, juristisch Leistungserschleichung, ist eine Straftat. Michaela Mehls: „Tom war alkoholisiert, stürzte und verletzte sich. Zwei Kontrolleure rannten ihm nach und hielten ihn bis zum Eintreffen der Polizei fest.“

Erste Frage: Warum rennt Tom weg, wenn er ein gültiges Ticket hat?

„Ich weiß nicht warum“, sagt er. Sein Vater nennt es „traumatisches Erlebnis“. Denn Tom wurde tatsächlich erst wenige Wochen vorher zur Kasse gebeten, weil er in einem Stadtbus ein Ticket nicht entwertet hatte. Und auch an einem Tag im Jahr 2016 konnte er bei einer Kontrolle keinen Fahrausweis vorzeigen. Damals handelte es sich um eine Monatskarte, die er nur vergessen hatte. Also Panik vor Kontrolleuren an sich? Möglich, doch Tom erzählt auch noch eine andere Version: „Ich wollte durch den Tunnel rennen, von einem Freund was holen, und am Bahnhof wieder einsteigen.“

Zweite Frage: Wie lange wollten die Kontrolleure Tom festhalten?

Tatsächlich liegt bei der Polizei kein Anruf der Dussmann-Leute vor. Angerufen hat ein Passant. „Der nahm an, dass eine Person Hilfe benötigt, mehr wusste er nicht“, bestätigt ein Polizeibeamter. Eine Streife fährt vor Ort. Auf Nachfrage der Beamten erklärt Tom, gestürzt zu sein. Damit besteht für die Polizei kein Grund zu weiteren Handlungen. Nach Aufnahme der Personalien ist deren Einsatz beendet.

Dritte Frage: Warum sagt Tom der Polizei, „nur“ gestürzt zu sein?

Er weiß das nicht. Auch Tim und Toby wissen nichts. Offenbar war doch mehr Alkohol im Spiel? Nachher sagt Tom jedenfalls: „Ich stand völlig neben mir, keine Ahnung, was ich den Polizisten gesagt habe.“

Tom trifft einen Kumpel, der nimmt ihn zu sich nach Hause. Dort holt Toms Vater seinen Sohn ab. Als er am nächsten Tag über anhaltende Schmerzen klagt, geht der Vater zur Polizei und zeigt die Kontrolleure wegen Körperverletzung an. Erst jetzt gibt es für die Beamten eine entsprechende Handhabe, denn Körperverletzung zählt zu jenen Straftaten, die nur nach Anzeigen der Betroffenen verfolgt werden.

Vierte Frage: Warum haben die Kontrolleure gar nicht kontrolliert?

Hätten sie es getan, wüssten sie um den vorhandenen Fahrschein, auf dem Kauf- und Entwertungsdatum aufgedruckt sind. Statt das im Jakobstunnel zu prüfen, fragten sie nicht danach. „Den Fahrschein haben wir als Beweis zur Anzeige wegen Körperverletzung genommen“, informiert Thomas Knaup von der Polizeidirektion.

Tom wird am Nachmittag im Klinikum untersucht – und stationär bis 23. Oktober dabehalten. Im Klinikum diagnostiziert Andreas Backert, Facharzt für Unfallchirurgie, bei Tom Prellungen des Schädels, der Rippen, des Bauches, der Unterarme, eines Oberschenkels. Zudem wird ein erstgradiges Schädelhirntrauma bescheinigt.

Fünfte Frage: Können die Verletzungen wirklich auf einen Sturz hindeuten?

Niemand weiß es. Fakt ist, dass ärztliche Untersuchungen erst 18 Stunden nach dem Vorfall erfolgen. Dirk Metz von Dussmann will „nach Rücksprache mit Polizisten“ erfahren haben, dass Tom „zu dieser Zeit unverletzt“ war. Das gehört für Polizeisprecher Knaup zu „Widersprüchen, die geklärt“ werden müssen. Doch sie werden es nicht. Tom bleibt bei seiner Aussage, Dussmann-Sprecherin Mehls bei ihrer: „Wir sind der Überzeugung, dass sich unsere Kontrolleure korrekt verhalten haben.“ Es gibt keine deutlichen Zeugenaussagen, so dass der Kriminaldienst des Polizeireviers die Ermittlungen beendet. Oberstaatsanwalt Sebastian Matthieu bestätigt: „Die Sache wurde an die Staatsanwaltschaft gegeben.“ Da es nur Rede und Gegenrede gibt, bleibt möglicherweise nichts anderes übrig, als das Verfahren einzustellen.

Sechste Frage: Sind Ticket-Kontrolleure je zur Verantwortung gezogen worden?

Nein, das sind sie nicht. Es gibt zwar bei der Verkehrsgesellschaft, in sozialen Medien und als Leserzuschriften zahlreiche Berichte von Übergriffen der Kontrollkräfte, und selbst Michaela Mehls will „nicht ausschließen, dass mal ein Mitarbeiter übers Ziel hinausschießt.“ Immer wieder gäbe es deshalb „Maßnahmen, um die Kollegen zu sensibilisieren“, gäbe es „Schulungen zur Konfliktbewältigung.“ Mitarbeiter im Prüfdienst besäßen eine IHK-Sachkundeprüfung, wurden alle von der Gewerbeaufsicht überprüft und als zuverlässig erklärt. Dennoch gibt es ein Indiz dafür, behaupten zu können, die Kontrolleure gehen ab und an zu weit: die Zahl der Anzeigen. Seit 2010 gingen bei der Görlitzer Staatsanwaltschaft 27 Strafanzeigen wegen Körperverletzung gegen vier Dussmann-Kontrolleure ein. Allerdings: „Alle Verfahren wurden bisher wieder eingestellt“, informiert Sebastian Matthieu. Meistens, weil wie bei Tom Aussage gegen Aussage stand. Aber in etwa einem Drittel der Fälle hätten sich die Vorwürfe auch nicht bestätigt.

Bei der Staatsanwaltschaft weiß man aber auch: Seit es die jetzigen Kontrolleure gibt, wird erstmals wirkungsvoll gegen Schwarzfahren in Görlitz vorgegangen. Erstmals hatte es 2014 eine Verdopplung der Feststellungen gegeben. Wurden 2013 reichlich tausend Schwarzfahrer in Görlitz erwischt, waren es plötzlich und sind es bis heute jährlich 2 500. Dennoch zahlen die Verkehrsbetriebe für Kontrolleur- und Bearbeitungskosten mehr, als sie durch das erhöhte Beförderungsgeld einnehmen. Die Dussmann-Kontrolleure erwischen Rentner wie Schüler, Ärzte wie Arbeitslose. Umstritten indes ist ihr unsensibles Vorgehen, oft gegen Schulkinder, aber auch immer wieder gegen mit dem Görlitzer Entwerten unerfahrene Touristen. Andererseits berichtete einst Ralph Heselbart, ein Kontrolleur, auch von manipulierten Fahrscheinen: „Da wird mehrfach überstempelt oder gar die Stempelfläche überklebt.“ Und seit fünf Jahren häufen sich Übergriffe auf Kontrolleure, meist bei Erwischten unter Rauschmitteln. „Alkohol und Crystal sind ein Problem“, sagte Heselbart.

Siebente Frage: Haben Kontrolleure irgendwelche Freibriefe im Auftreten?

Nein, die haben sie natürlich nicht. „Klar waschen auch Geschädigte mal schmutzige Wäsche, und klar ist die Ticketkontrolle kein einfacher Job“, sagt Oberstaatsanwalt Matthieu, jedoch sollte das die Mitarbeiter nicht daran hindern, bestimmt aber höflich, nichts übersehend aber wenn nötig auch helfend aufzutreten, Ansprechpartner statt Buhmann zu sein. „Sie müssen lernen, die Deeskalation zu beherrschen“, betont Sebastian Matthieu. Egal, wer welche Schuld hat – aber dann wäre vielleicht auch der Fall Tom nicht erst ein Fall geworden.