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Rastlos glücklich

Frank Salzmann pflegt das positive Denken. Auf seinen Reisen erlebt er, dass viele Menschen weniger besitzen als die Deutschen und trotzdem zufrieden sind.

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© Norbert Millauer

Von Jörg Stock

Frank Salzmann ordnet die Spielsteine zur Anstoßformation. Dann schnippt er den größten Stein, den „Striker“, in die Masse, und alles stiebt auseinander. Das Spiel heißt Carrom, Fingerbillard. In Indien und seiner Nachbarschaft gehört es zum Straßenbild. Selbst Gandhi spielte es. In Pirna muss Salzmann meist mit sich allein spielen. Dabei würde Carrom den Leuten guttun, denkt er. Man spielt nicht gegeneinander, sondern miteinander. Man hat keinen Stress – und das Wichtigste: Man kann dabei reden. Die Gesprächskultur hierzulande ist im Eimer, sagt er, und das gründlich. „Wenn wir es nicht schaffen, wieder miteinander zu reden, dann haben wir in Zukunft ein echtes Problem.“

Frank Salzmann in seiner Fahrradstation in der Pirnaer Altstadt. Mit dem Laden hat er sich seinen Lebenstraum erfüllt: „Das Radfahren ist einfach in mir drin.“
Frank Salzmann in seiner Fahrradstation in der Pirnaer Altstadt. Mit dem Laden hat er sich seinen Lebenstraum erfüllt: „Das Radfahren ist einfach in mir drin.“ © Norbert Millauer

Frank Salzmann kann reden. „Manchmal zu viel“, sagt er. Aber er hat auch viel zu erzählen. Er ist 51 Jahre alt, und man hat das Gefühl, er müsste mindestens hundert sein, um all das erlebt zu haben, wovon er berichtet. Kindheit in einem verlotterten Vorstadthaus mit fließend Wasser, „oben zum Dach rein, unten zur Tür wieder raus“, und autoritärem Vater. Mit 17 nach Thüringen, Wismut-Kumpel, dann langhaariger Widerborst, Herumtreiber und Montagsdemonstrant, dann Kurierfahrer und Unternehmer, dann Pleitier und „Hartzer“, heute Fahrradladenbesitzer und Weltenbummler. Neben dem Spaß an Fahrrädern ist das Reisen sein Daseinszweck und Antrieb. „Es ist mein Lebenselixier.“

Frank Salzmann lebt heute in einem Siedlungshaus in Pirnas Süden. Die Einrichtung ist so bunt wie seine Biografie. Massivholz aus den 1920ern neben Massenware von Ikea. Schokoladenmädchen von Liotard neben afrikanischer Schnitzfigur aus dem Eine-Welt-Laden. Rasta-Guru Bob Marley neben Fußball-Guru Jürgen Croy. „Es ist kein Stil, aber es ist mein Stil“, sagt Salzmann. Im Flur baumelt ein alter Dreschflegel, nicht für ungebetene Gäste, sondern weil er „schick“ ist. Salzmann verabscheut Gewalt. Nicht dass er nie zugeschlagen hätte. Als Wismut-Lehrling war er gleich am zweiten Tag in eine Massenschlägerei verwickelt. Vom Grundsatz her aber ist er Pazifist, eine „Friedenstaube“, wie er sagt. Und da ist er wieder beim Reden. Wenn es Ärger gab, hat das fast immer geholfen.

Er tischt schwarzen Tee auf, echten türkischen, und dazu zuckersüßes Konfekt. Es sind Mitbringsel von seiner jüngsten Reise. Ein Road-Trip mit seinem Transporter, das Rad hinten drin, von Pirna aus den ganzen Balkan runter bis auf die Halbinsel Gelibolu an den Dardanellen. Wenn die Menschen hier dächten, ihnen ginge es so schlecht, dann sollten sie mal über den Tellerrand gucken, sagt Salzmann. „Die Leute kommen eben nicht raus, das ist das Problem.“

Auf seiner Tour hat er viel Armut gesehen, Städte, die in der EU liegen und die an vielen Ecken noch immer aussehen, als befänden sie sich tief in Russland. Als er mal in Marokko war, machte ihn das Elend schier sprachlos. Und doch waren die Leute irgendwie glücklich. Eine Hütte, eine Ziege, ein Stück Feld. Und ansonsten? Inshallah – so Gott will. Salzmann sinniert. Koran und Bibel stehen in seinem proppevollen Bücherschrank. Beide Bücher hat er gelesen. Mag sein, dass er nicht alles verstanden hat. So viel aber doch, dass da „viele schöne Sachen“ drinstehen. „Vielleicht sollten wir alle wieder mehr glauben?“

Dass die Menschen hier nicht mehr an die Politiker glauben wollen, kann Frank Salzmann nachvollziehen. Selbst ihm, dem Berufsoptimisten, fällt das schwer. Zu lange, sagt er, ist an den Leuten vorbeiregiert worden. Was ihn erschüttert, ist, dass statt des guten Glaubens der Hass um sich greift. Er merkt es in seinem Laden, wenn im Gespräch die einen über die anderen herziehen. Selbst Gutbetuchte hassen. Woher kommt das? Von der Angst, denkt Salzmann. Und es gibt viele Leute, die mit der Angst Politik machen. Oder Auflage.

Stichwort Türkei. In Deutschland werden die Türken rundgemacht, wegen Erdogan, sagt Salzmann. Als er jetzt unten war, haben Türken ihn, den wildfremden Deutschen, eingeladen zu Tee und handgemachten Köfte, den türkischen Frikadellen. Wenn die Politiker sich streiten, so haben ihm seine Gastgeber bedeutet, hat das nichts mit den normalen Menschen zu tun. Ein guter Mensch zu sein, das steckt in uns allen drin – da ist Salzmann überzeugt. Nur müssen wir diesen Gedanken wieder zulassen, sagt er. „Was ist das für eine Gesellschaft, wo ein Gutmensch etwas Schlechtes ist?“ Er redet von der Flut 2013. Tagelang stand die Elbe mitten in Pirna. Man war ohnmächtig, aber hielt zusammen, half sich. Kein böses Wort fiel in der wässrigen Stille. „Es war fast wie Buddhismus.“

Zusammenhalt hat Salzmann auch in der DDR erlebt, als Maschinist der Wismut. Die Wismuter klebten zusammen wie Pech und Schwefel. Stolz trug er ihre schwarze Uniform. „Eine tolle Nummer.“ Doch als die Haare wuchsen, er in die Blueser-Szene abtauchte, ein Hippie im Sozialismus wurde, da war es vorbei mit dem Kumpelding. Dauernd gab es Zoff mit dem Staat, den die „Gammler“ störten. Salzmann wurde regelmäßig durchsucht, verhaftet, an seinen lila Haaren über Polizeiflure gezerrt. „Alles nur, weil wir anders waren.“ Als er den Ausreiseantrag stellte, flog er bei der Wismut endgültig raus. Arbeit bekam er bis zur Wende keine mehr. Er hauste in verlassenen Wohnungen und lebte vom Altstoffsammeln und vom Schwarzhandel mit Schallplatten und Büchern.

Wenn manche der Unzufriedenen heute die DDR verklären, geht ihm das gegen den Strich. Wohl gibt es auch heute Menschen, die sich unterdrückt fühlen, aus verschiedenen Gründen. Aber wenigstens hat man einen Anspruch, ein Recht darauf, frei zu sein, zu reisen, so zu leben, wie man will. Freiheit für alle – dafür ist er 1989 auf den Demos mitmarschiert, zuweilen mit gehörig Schiss, hat „Wir sind das Volk!“ gerufen. Als derselbe Ruf bei den Pegida-Märschen aufkam, ärgerte ihn das. Es klang ihm zu sehr nach Ausgrenzung, danach, dass einige das Volk sind und dass es andere gibt, die kein Recht haben, das Volk zu sein. Salzmann hörte zu viel Gemotze und zu wenig Visionen, wie es denn weitergehen sollte auf dem „Merkel-Muss-Weg“. Er will die Kanzlerin ja nicht in den Himmel heben. Aber wenigstens, findet er, ist sie ein „Typ“. Und Typen braucht das Land. Vielleicht so einen wie Obama. Wo man den herkriegt, weiß er allerdings nicht.

Ein Typ – das ist Frank Salzmann auch irgendwie. Ein Stehaufmännchen, so sagt er. Ohne diese Eigenschaft wäre er den langen Weg wohl nicht gegangen – von der drangsalierten Untergrundexistenz in der DDR bis zum Handelsmann im vereinten Deutschland. Wirtschaftlich läuft es mit seinem Fahrradladen, sagt er. Er wird nicht reich damit. Dafür lebt er seinen Lebenstraum. Für ihn gibt es die blühenden Landschaften des Helmut Kohl wirklich. Und für viele andere eigentlich auch, gerade in Pirna, dessen Herz schon so gut wie tot war, abgewohnt, löchrig, modernd, stinkend. Heute ist die Altstadt ein blitzendes Kleinod. „Darauf kann man doch stolz sein!“

Natürlich sieht er auch die Schattenseiten der neuen Zeit. Und er kennt sie. Mit einem Fahrradkurierdienst ging er in Konkurs. Gerade noch Chef von dreißig Leuten, dann plötzlich Bittsteller beim Sozialamt. „Das war ein Schock.“ In der Polytechnischen Oberschule „Karl-Marx“ hat er seinerzeit gut aufgepasst im Fach Staatsbürgerkunde, kriegte Einsen, obwohl er nicht an das System glaubte. Heute findet er: Das meiste, was über den Kapitalismus im Stabü-Buch stand, hat gestimmt.

Auf dem Stubentisch liegt Frank Salzmanns Pass, liegen Reiseführer und Wörterbücher. Es geht nach Sri Lanka. Er freut sich auf das Land, aufs Wandern, Baden, Tempel angucken, Elefanten reiten, auch aufs Carrom spielen. Er wird wieder viel reden mit den Leuten und wird sich überraschen lassen, was passiert. Aber eins steht für ihn jetzt schon fest: Nach Deutschland, nach Sachsen, nach Pirna wird er gern zurückkommen, so wie jedes Mal.