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Plötzlich Geschwister

Annerose Lange reist 1982 aus. Sie ahnt nicht, dass sie in Riesa noch einen Halbbruder hat – bis zu diesem Sommer.

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© Lutz Weidler

Von Britta Veltzke

Riesa. Im Nachhinein ist Annerose Lange erstaunt über ihre eigene Reaktion: Sie trifft ihren Halbbruder, von dem sie bis vor einer Stunde noch gar nichts wusste, und findet es „irgendwie ganz normal.“ Im Juli war das – mehr als 500 Kilometer von Riesa entfernt in der Eifel. Dort lebt Annerose Lange mit ihrem Mann Karl-Heinz. Beide stammen aus Riesa. Sie haben damals die Riesaer Petition zur vollen Erlangung der Menschenrechte unterschrieben. Nach siebenjähriger Verfolgung durch die Stasi konnte das Paar 1982 ausreisen.

Ungeachtet dessen lebte Peter Seeberg mit seiner Frau Susanne in Riesa – bis heute. Vom Bestreben der Petitionäre haben sie damals kaum etwas mitbekommen. Sie waren zufrieden mit ihrem Leben in der DDR. Er arbeitete als Handwerker, sie als Erzieherin. Das Ehepaar hat ein Kind. „Wir hatten nie vor, die DDR zu verlassen“, erklärt Peter Seeberg. Eigentlich heißen der Riesaer und seine Frau ganz anders. Aber sie haben keine Lust ständig auf diese „alte Geschichte“ angesprochen zu werden.

Diese „alte Geschichte“ beginnt einige Jahre nach Peter Seebergs Geburt. Sein Vater fängt ein Verhältnis mit einer anderen Frau an. Er und seine Ehefrau lassen sich scheiden. Einen Vater hat der Riesaer Peter Seeberg nie gehabt. Auch der neue Mann im Leben seiner Mutter übernimmt die Rolle nicht. Sein Erzeuger will offenbar nichts von seinem Sohn wissen. Er hat eine neue Familie gegründet und meldet sich nicht mal, als seine Ex-Frau früh stirbt. Sein Sohn, Peter Seeberg, ist zu diesem Zeitpunkt 18 Jahre alt – steht da, ohne Mutter und ohne Vater. „Ich kannte seinen Namen. Ich hätte ihn suchen können. Aber allein der Gedanke daran, wie ein Bettler vor seiner Tür zu stehen und abgewiesen zu werden, hat mich abgeschreckt“, erzählt Peter Seeberg. – Einen neuen Impuls, sich mit seiner Familie auseinanderzusetzen, gibt die SZ-Serie „Die Stasi vor unserer Haustür“ über die Machenschaften der DDR-Staatssicherheit. Der Artikel vom 21. November 2014 hat Seeberg aufhorchen lassen. Unter dem Titel „Ihr Eierköpfe könnt mir gar nichts“ berichtet die SZ über Annerose und Karl-Heinz Lange – darüber wie sie sich über Jahre hinweg mit dem Rat des Kreises über die Ausreise streiten, wie Karl-Heinz Lange die Stasi provoziert. Die Vehemenz hat sich ausgezahlt. 1982 dürfen die Langes die DDR verlassen. In dem Artikel geht es außerdem um den Vater von Annerose Lange: Walter Wittig. Peter Seeberg kennt den Namen, sein Vater trägt den selben. Von diesem Zeitpunkt an weiß der Riesaer, wie seine Schwester aussieht. Annerose Lange hat hingegen weiterhin keinen Schimmer von einem Halbbruder.

Vater Walter Wittig arbeitete bei der Volkspolizei. Als Diener des Staates war er nicht eben glücklich über seine Tochter, die die DDR verlassen wollte. Mehr noch: Der eigene Vater erteilte der Stasi Auskunft über seine Familie. „Er hat das vor allem getan, um seine Pensionszahlung nicht zu gefährden, die für DDR-Verhältnisse nicht unerheblich war“, erzählt Annerose Lange. Wittig starb 2010 in Riesa.

Peter Seeberg, heute 72 Jahre alt, hat die Todesanzeige ausgeschnitten. Viele Jahre hat er mit sich gehadert. Soll ich Kontakt zu meiner Familie aufnehmen? Was, wenn sie mich abweist? Ohne seine Frau wäre er den Schritt nie gegangen. „Nie“, sagt er noch einmal mit voller Überzeugung. Zweimal schon haben die Seebergs Ferien in der Eifel gemacht. Aber erst beim letzten Besuch, in diesem Juli, haben sie sich an die Langes herangewagt. „Aus dem SZ-Artikel wussten wir ja, dass Karl-Heinz Lange eine Gaststätte in Bad Münstereifel betreibt.“ Vor Ort mussten die Riesaer aber feststellen, dass das Lokal den Besitzer gewechselt hat. „Einer Vorfahrtsregel sei dank, dass wir erfahren haben, wo wir die Langes trotzdem finden können.“ Einer Vorfahrtsregel? „Unterhalb der Gaststätte fuhr gerade eine Nachbarin mit ihrem Auto weg. Ohne weiter nachzudenken, bin ich zu ihr hingelaufen.“ Hätte die Fahrerin an der Kreuzung die Vorfahrt nicht beachten müssen: „Weg wäre sie gewesen, wir wären unverrichteter Dinge gefahren“, erzählt Susanne Seeberg. Die Fahrerin wusste, wo Karl-Heinz Lange jetzt arbeitet. Sie fuhren hin. „Ich sagte, wir kommen aus Riesa und das ist der Halbbruder ihrer Frau. Da entglitt ihm kurz das Gesicht.“ Eine Stunde später sitzt Peter Seeberg nebst Frau, Halbschwester und Schwager auf der Terrasse der Langes. Und auch der „ganze“ Bruder von Annerose Lange, Steffen Wittig, gesellt sich zu ihnen. 1989 war auch er in den Westen umgesiedelt. Heute lebt er etwa 60 Kilometer von seiner Schwester entfernt. Weder sie noch er wussten von ihrem Halbbruder. „Obwohl wir uns noch nie gesehen haben, war da gleich etwas Verbindendes. Ganz eigenartig, aber es ist ein gutes Gefühl“, sagt Peter Seeberg. Auch Annerose Lange empfindet den neuen Bruder als Bereicherung – auch wenn der unerhoffte Besuch ihr zum zweiten Mal vor Augen geführt hat, wozu ihr Vater fähig war.