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Mundraub im Elbland

Kostenlose Kirschen, Minze zum Mitnehmen: Eine Internetseite listet auf, wo Obst, Nüsse und Kräuter gratis geerntet werden können. Aber ist das legal?

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© Claudia Hübschmann

Von Dominique Bielmeier

Meißen. Noch zart grün, leuchtend pink oder schon ganz schwarz: Die Brombeeren nahe der Elbtalstraße am Meißner Elbufer machen gerade alle Reifestufen durch. Zur Freude der Radler und Wanderer, die hier bei einem Ausflug mit bestem Blick zum Burgberg auf der anderen Elbseite von den Früchten naschen können. Ein süßer Zufall – zumindest für die meisten.

Die interaktive Landkarte auf Mundraub.org zeigt, wo man Obst, Kräuter und Nüsse ernten kann – auch im Landkreis Meißen.
Die interaktive Landkarte auf Mundraub.org zeigt, wo man Obst, Kräuter und Nüsse ernten kann – auch im Landkreis Meißen. © Screenshot/SZ

Denn es gibt auch diejenigen, die schon von den Brombeersträuchern wissen und gezielt zum Naschen und sogar Ernten hierherkommen. Nicht etwa, weil sie seit Jahrzehnten selbst Meißner sind. Sondern weil eine besondere Internetseite sie hierher gelotst hat.

„An der Süßkirschallee direkt am Radweg an der Elbe gibt es stadtauswärts mehrere große Brombeersträucher. Unter den Kirschbäumen zum Teil auch“, schrieb der Nutzer „FruchtTatzen“ schon Ende Juni 2014 auf der Seite Mundraub.org. Dort gibt es eine interaktive Weltkarte, die sich vergrößern und verkleinern lässt. Wenn man einzelne Orte anzoomt, erscheinen kleine Symbole, die zum Beispiel Kirschen oder Äpfel zeigen. Die allermeisten sind über Deutschland verteilt. Klickt man eines der Symbole an, erfährt man, was genau wächst – und wo. Außerdem gibt es Kurzinformationen zur Frucht („Zur Gattung der Brombeeren gehören allein in Deutschland mindestens 200 Arten“).

Vermerkt sind die Fundorte von Obstbäumen, Obststräuchern, Kräutern und Nüssen. Eintragen kann sie im Prinzip jeder, der sich an der kostenlosen Plattform beteiligen will und dort ein Nutzerkonto anlegt. Er wird dann selbst zum „Mundräuber“. Deren Vision klingt utopisch schön: „In einer Welt, in der in Plastik eingeschweißte Supermarktäpfel nur noch in der Erinnerung existieren, leben wir in einer essbaren Landschaft, die jedem zugänglich ist. Wo Kinder auf Obstbäumen klettern und Eltern die Früchte der Allmende verarbeiten, säen wir den Mut zur Verantwortung und wecken die Schaffenskraft einer starken Gemeinschaft. Gemeinsam pflanzen, pflegen und pflücken wir dort, wo vergessen wurde, nehmen wahr, was übersehen wird und teilen, was allen gehört.“ Nur: Ist das rechtlich wirklich immer so eindeutig?

Nicht nur die Brombeersträucher an der Elbe sind bei Mundraub.org eingezeichnet. Am Riesaer Bahnhof steht zum Beispiel ein Birnbaum, an der Skassaer Straße in Großenhain wachsen Kirschen, an der Kirchstraße in Coswig soll ein Mirabellenbaum stehen, und an der Gartenstraße in Radebeul gibt es Haselnusssträucher. Das Elbland ist voller Mundräuber, so scheint es. Aber was sagen die Kommunen dazu?

Der Riesaer Stadtverwaltung war die Seite bisher noch nicht bekannt, die Stadt sei laut Sprecher Uwe Päsler aber „prinzipiell daran interessiert, dass Obstbäume am Feldrain und anderswo beerntet werden, damit die Früchte auch verwertet werden“. Nur explizit darauf hingewiesen werde nicht. Dafür gab es „schon einzelne Anfragen nach Standorten, die unser Sachbereich Grünflächenunterhaltung gern beantwortet hat“. Solange nichts eingezäunt sei, bestehe auch kein Legalitätsproblem, so Päsler. „Was hinter Zäunen steht, ist natürlich tabu. Wer Zweifel an der Eigentümerschaft hat, kann die Stadtverwaltung fragen.“

Meißen duldet laut Stadtsprecherin Katharina Reso ausdrücklich das Abpflücken von Obst und Co. auf Grundstücken der Stadt. „Deshalb sind an einigen Stellen auch extra Obstbäume gepflanzt worden und keine „Zierbäume“, damit Passanten hier und da naschen können.“ Nur beschädigt werden dürften Bäume und Sträucher dabei nicht.

Genau hier sieht der Coswiger Ordnungsamtsleiter Olaf Lier das Problem. Sich etwas vom Stadtobst zu nehmen, sei keinesfalls verboten – „die Frage ist, wie man es tut“. Er habe schon Bürger gesehen, die mit Auto, Anhänger und Leiter vor Obstbäumen angerückt seien. Im Baum rumzuklettern, ihn zu verletzen und vielleicht Äste anzubrechen, die dann den nächsten Mundräuber nicht mehr tragen könnten, das sei problematisch. Besser sei es, sich gleich an den Baubetriebshof zu wenden und zum Beispiel eine E-Mail zu schreiben, dass man gerne etwas ernten möchte, und seine Telefonnummer zu hinterlassen.

Beim Naschen von Sträuchern bestehe außerdem die Gefahr, sich zum Beispiel mit dem Fuchsbandwurm zu infizieren. „Und sich die Taschen zu füllen und das Obst mit nach Hause zu nehmen, das ist dann nicht mehr Mundraub – das ist Diebstahl“, findet Lier.

Die Seite appelliert in vier „Mundräuber-Regeln“ übrigens selbst zum verantwortungsvollen Umgang mit dem Obst sowie fremdem Eigentum:

1. Stelle vor dem Eintragen und/oder Ernten sicher, dass keine Eigentumsrechte verletzt werden.

2. Gehe behutsam mit den Bäumen, der umgebenden Natur und den dort lebenden Tieren um. Für den Eigenbedarf pflücken ist erlaubt, aber nicht in großem Stil gewerbsmäßig, dazu braucht es eine behördliche Genehmigung.

3. Teile die Früchte deiner Entdeckungen und gib etwas zurück.

4. Engagiere dich bei der Pflege und Nachpflanzung von Obstbäumen.

Vor allem der letzte Punkt ist der gemeinnützigen Unternehmergesellschaft Terra Concordia mit Sitz in Berlin, die seit 2009 hinter Mundraub.org steckt, wichtig. Denn Fundorte eintragen und Früchte naschen ist nur das eine. Die Gemeinschaft dahinter – rund 55 000 registrierte Nutzer – trifft sich auch zu gemeinsamen Ausflügen, Ernteaktionen, zu Baumpflanzungen oder zum Obstbaumschnitt.

Auch Unternehmen und Kommunen können direkt mit der Plattform kooperieren. Die Stadt Leipzig tut das beispielsweise schon. Könnte auch Meißen bald ganz offiziell auf die Brombeeren an der Elbe hinweisen? Wohl eher nicht. Stadtsprecherin Reso: „Wenn wir das Mitnehmen von Früchten „offiziell“ machen würden, wie über die Mundraub-Seite, müssten wir natürlich auch gewährleisten, dass die angebotenen Früchte problemlos konsumiert werden können, also zum Beispiel ohne zwischen Autos umherzulaufen, und müssten eigene Flächen ausweisen.“ Es wird also vorerst beim süßen Zufall bleiben.