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Kommissar tabulos

2013 ließ sich Wojciech S. auf eigenen Wunsch töten. Der Polizist Detlev Günzel hat ihn ermordet, davon sind die Richter überzeugt, doch ihr Urteil bleibt unter der Höchststrafe. Ein bizarrer Mord und seine Folgen.

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© Ronald Bonß

Von Thomas Schade

Strafverteidiger Endrik Wilhelm gab sich vor Tagen zu Beginn seines Plädoyers einem Wunschtraum hin: Was würde Wojciech S. wohl sagen, wenn er noch Auskunft geben könnte, was sich am 4. November 2013 in der Pension im Gimmlitztal abgespielt hat? Anwalt Wilhelm glaubt natürlich zu wissen, was der 59-jährige Pole geantwortet hätte: „Er hätte gesagt: Ich habe mir das Leben genommen, weil Detlev Günzel mich nicht töten, aber schlachten wollte.“

Die Pension im Gimmlitztal, der Ort des Geschehens vom 4. November 2013.
Die Pension im Gimmlitztal, der Ort des Geschehens vom 4. November 2013. © Robert Michael
In der Kellerbar empfing Detlef Günzel die Pensionsgäste.
In der Kellerbar empfing Detlef Günzel die Pensionsgäste. © Ronald Bonß
Ebenfalls im Keller befand sich auch das SM-Studio, in dem der Mord stattfand.
Ebenfalls im Keller befand sich auch das SM-Studio, in dem der Mord stattfand. © Ronald Bonß

Doch Wojciech S. gibt keine Auskunft mehr, er starb an jenem Tag zwischen 17 und 19 Uhr in einem Sadomaso-Keller mit Eisenkäfig für Sexsklaven und diversen anderen Folter-Utensilien, wie sie in SM-Studios zu finden sind. Ein Video zeigt, wie der Mann aus Hannover stranguliert mit dem Kopf in der Schlinge eines Henkerknotens an der Kellerdecke hängt.

Der 57-jährige Kriminalhauptkommissar Detlev Günzel ist der Letzte, der Wojciech S. lebend gesehen hat. Auch er weiß, was passiert ist, bevor er die Videokamera einschaltete, um die Schlachtung des Mannes zu filmen, den er im InternetKannibalenforum „Zambian Meat“ kennengelernt hatte. Doch Günzel hat seine Glaubwürdigkeit verspielt. Er lieferte im Laufe des Gerichtsverfahrens vier verschiedene Versionen darüber ab, wie seine Internet-Bekanntschaft zu Tode gekommen ist – auch zum Ärger seiner beiden Verteidiger.

Die Richter der Großen Schwurgerichtskammer in Dresden, die sieben Monate über den Polizisten zu Gericht gesessen haben, hielten gestern nichts vom Ausflug des Verteidigers ins Reich von „Wünsch dir was“. Sie sind vielmehr überzeugt, dass Detlev Günzel das Seil hochgezogen und Wojciech S. so aus dem Leben befördert hat. Deshalb verurteilten sie den Mitarbeiter des Landeskriminalamtes wegen Mordes und Störung der Totenruhe. Der Angeklagte habe getötet, um seinen Sexualtrieb zu befriedigen und eine weitere Straftat, die Schlachtung, zu ermöglichen, erklärte die Vorsitzende Richterin Birgit Wiegand in ihrer zweistündigen Begründung.

Detlev Günzel war wohl vorbereitet. Ohne Gefühlsregung nahm er den Richterspruch hin. Fast gut gelaunt hatte er den großen Sitzungssaal betreten – wie an den meisten Verhandlungstagen zuvor im lachsfarbenen Hemd über der schwarzen Hose. Wie immer winkte er kurz seinen Leuten aus dem Gimmlitztal zu. Im Publikum saßen mehrere Polizisten der Soko Pension, die in dem Fall ermittelt hatten. Der Präsident und der Vizepräsident des Landgerichtes waren gekommen. Damit deutete sich bereits an: An diesem 1. April würde keine gewöhnliche Entscheidung verkündet.

Tatsächlich verzichteten die Richter auf das für Mord übliche Strafmaß einer lebenslänglichen Haft. Mit ihrem Urteil von achteinhalb Jahren Haft blieben sie sogar zwei Jahre unter dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Das zeigt die außergewöhnlichen Umstände, die den bizarren Fall von Beginn an begleiteten. Auch die Kammer konnte nicht außer Acht lassen, dass Wojciech S. von dem Wunsch beseelt war, sich schlachten und verspeisen zu lassen. Die Richter sind überzeugt: Der Mann aus Hannover war nicht ins Gimmlitztal nach Sachsen gekommen, um Selbstmord zu begehen. Dafür fehle jeder Hinweis. Er wollte getötet werden, „um seine jahrelangen Fantasien zu verwirklichen“. Der Angeklagte sei nach anfänglichem Zögern dazu bereit gewesen. Er war Herr der Lage und hätte es beenden können, so das Gericht.

Sechs Jahre war Wojciech S. unter dem Namen „LongPicHeszla“ im Kannibalenforum „Zambian Meat“ unterwegs, um jemanden zu finden, der mit ihm nicht nur bizarre Fantasien ausleben wollte, sondern tatsächlich zum Messer greifen würde. Das Internetforum, von Zynikern auch als Online-Speisekarte für Kannibalen bezeichnet, hat einschlägige Tradition. 2001 lernte dort der „Kannibale von Rothenburg“ Armin Meiwes sein Opfer Bernd B. bei „Zambian Meat“ kennen. Auch Wojciech S. habe zu Meiwes Kontakt aufnehmen wollen, sagt seine Frau.

Ohne „Zambian Meat“ wäre es vermutlich nie zu der folgenschweren Begegnung im Gimmlitztal gekommen. 2013 hatte sich auch Detlev Günzel unter dem Namen „Caligula31“ dort registriert und mit einem Häkchen in seinem Profil deutlich signalisiert, dass er „real life“ wollte, mehr als nur Fantasie ausleben, mehr als nur „Kopfkino“, wie Richterin Wiegand sagt. Sie glaubt nicht, das Günzel das Häkchen nur setzte, um im Chat glaubwürdiger zu sein.

Für Wojciech S. war das Häkchen bei „real life“ der Anlass, am 2. Oktober 2013 Kontakt zu „Caligula31“ aufzunehmen. Mehr als 400 Mitteilungen tauschten beide in den folgenden Wochen aus, schickten sich fast 100 Mails und telefonierten mindestens elfmal miteinander. In der Kommunikation zwischen beiden habe es an Deutlichkeit nicht gefehlt, so die Richterin. Der eine wollte geschlachtet werden, der andere erklärte sich bereit, das zu tun, und immer seien auch sexuelle Fantasien dabei gewesen.

Persönlich haben sich Wojciech S. und Günzel nur wenige Stunden gekannt. Für die Kammer das entscheidende Kriterium, dass die Voraussetzung für eine Tötung auf Verlangen nicht vorliegt.

Zu den ungewöhnlichen Umständen des bizarren Geschehens zählt auch, dass sich zwei Menschen aus der Mitte der Gesellschaft zu der grausigen Tat verabreden konnten. Beide hatten Familie, haben Kinder, beide standen mitten im Leben – der eine als Beamter im Dienst des Freistaates Sachsen, der andere als Geschäftsmann und Lokalpolitiker. Wojciech S. war bis zuletzt für die CDU in Hannover kommunalpolitisch und gesellschaftlich aktiv. Er galt als kommunikativ und lebensfroh. Weder seine Ehefrau noch seine Tochter glauben an seinen Todeswunsch. Mit der neuen Freundin Swetlana hatte er Zukunftspläne. Auch wenn seine Geschäfte im Speditionsgewerbe mitunter nicht gut liefen, so galt er doch als Stehaufmännchen, als einer, der sich immer zu helfen wusste.

Nur wenige wussten von seinen absonderlichen Fantasien. Keiner hielt es für möglich, dass er sie eines Tages verwirklichen könnte. So war die Ratlosigkeit groß, als der gebürtige Pole Anfang November 2013 einfach so verschwand. Keiner aus seinem Umfeld hatte geahnt, dass er alle Brücken abbrach, seine Nächsten belog, falsche Spuren legte und fast schon konspirativ nach Sachsen gereist war. Erst die Spuren, die er auf seinem PC und im Netz hinterlassen hatte, wiesen den Weg zu Detlev Günzel.

Wojciech S. störte es nicht, dass ihn ausgerechnet ein Kriminalkommissar schlachten und einverleiben würde. Seit mehr als 30 Jahren ist Günzel bei der Polizei. Er stammt aus dem thüringischen Städtchen Heldburg, begann nach der Schule eine Lehre als Galvaniseur, wechselte aber bald den Beruf, weil ihm die galvanischen Bäder und Dämpfe zu gefährlich erschienen.

1980 heuerte er bei der Polizei an, spezialisierte sich auf die Analyse von Handschriften und gilt auf diesem Gebiet als ausgewiesener Experte. 1994 wechselte er mit Frau und Kindern nach Sachsen. Schon als Jugendlicher entdeckte er seine Homosexualität, hatte bei der NVA erste intime Kontakte zu Männern, bekannte sich aber erst Jahre später offen dazu und ließ sich deshalb von seiner Frau scheiden. Seit 2003 lebt Günzel im Gimmlitztal – zusammen mit seinem Partner, einem Notar, den er heiratete, der sich aber nach dem Mord im Pensionskeller von ihm trennte.

Er habe nie gedacht, dass er mal so tief sinken könne, sagte Günzel nach der Tat. Der Satz beendet quasi das Video, auf dem er die Schlachtung aufgezeichnet hatte. Mit dem Satz sah er sich wohl selbst am Ende einer Reise, auf der er über Jahre hinweg immer aggressiver mit seiner Sexualität experimentiert hatte. Gutachter Andreas Merneros spricht von einer polymorphen Sexualität. All das sei jedoch nicht zwanghaft oder krankhaft gewesen. Detlev G. habe auch normale homosexuelle Kontakte gepflegt.

Seine Experimente nahmen jedoch über den Sadomasochismus hinaus zunehmend exzessive Züge an und machten vor Nekrophilie oder sexuellem Kannibalismus und Doktorspielen nicht halt. Seit 2006 gab es den Folterkeller, Zeugen sprachen vom Hauptquartier der SM-Szene der Gegend. In einem Arztzimmer mit Gynäkologenstuhl vollführte der Kommissar schmerzhafte Experimente an den eigenen Genitalien. Der Mord an Wojciech S. stellte nach Ansicht der Richter schließlich doch einen Tabubruch dar.

Am sexuellen Motiv für die Tat haben die Richter keinen Zweifel. Das „Schlachtfest“ werde „geil“, hatte Günzel Stunden vor der Begegnung vor der Kamera gesagt. Die längste Sequenz des Videos zeigt, so das Gericht, wie der Angeklagte Penis, Hoden und Hodensack des Toten auf einem Silberteller drapiert. Auch wie er mit blutigen Händen seine Genitalien manipuliert, sei zu sehen. Zudem hatte Günzel selbst gesagt, dass er Interesse am Penis von Wojciech S. gehabt habe – aus medizinischen Gründen. Alles Hinweise auf die sexuelle Motivation, so das Gericht.

Die Kammer hat auch keine Zweifel, dass der Angeklagte voll schuldfähig ist. Zwei Psychiater hätten keine Hinweise auf seelische Erkrankungen oder tiefere psychische Bewusstseinsstörungen gefunden. Auch seine Neigung zu sexuellen Perversionen sei nicht zwanghaft. Detlev Günzel habe sich unter Kontrolle, neige aber dazu, eigene Schuld auf andere zu verlagern, sein Verhalten offenbare narzisstische Züge, wie ein gesteigertes Verlangen nach Anerkennung und die ständige Suche nach Selbstbestätigung.

Solche Eigenschaften werden Detlev Günzel wohl auch leiten, wenn er wie angekündigt nun ein Buch schreibt. Er hat achteinhalb Jahre Zeit dazu, wenn das Urteil rechtskräftig wird.