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Die Trauer der Wölfe

Was fühlt ein Tier? Nach einem tödlichen Zusammenstoß mit einem Auto versucht ein Welpe in der Lausitz, seine Schwester am Waldrand zu vergraben.

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© Archiv/Biosphärenrsvt

Irmela Hennig

Rätselraten im Land der Wölfe: Es war am Donnerstagmorgen, als auf der Bundesstraße 156 zwischen Weißwasser und Boxberg ein junge Wölfin tödlich verletzt wurde. Das etwa sechs Monate alte Weibchen hatte die Straße überquert und war dabei von einem Hyundai erfasst worden. Die 26-jährige Fahrerin konnte nicht ausweichen. Das Tier verendete an der Unfallstelle.

Soweit – so normal, in einer Region, die seit Jahren mit den Wölfen lebt. Unfälle gehören dazu. Jedes Jahr sterben dabei vor allem Welpen. Doch dieses Mal kam alles anders als bisher erlebt. Während die Beamten den Unfall aufnahmen, kam ein zweiter Wolf aus dem Wald – vermutlich ein Geschwistertier und auch ein Welpe. Er zog das tote Junge zum Waldrand und fing an, es zu vergraben. Als die Polizei sich näherte, fletschte das Tier die Zähne.

Die Beamten blieben auf Abstand und informierten das Kontaktbüro Wolfsregion Lausitz. Erst als Wolfsexpertin Ilka Reinhardt am Unfallort ankam, zog sich der Wolf in den Wald zurück. Nach ihrer Aussage könnte es sich bei dem Tier, das den Wolf vergraben wollte, um ein männliches älteres Geschwistertier gehandelt haben.

Markus Bathen vom Naturschutzbund Nabu hält den Vorfall nicht für unerklärlich: Wolfsrudel seien als Familienverband der menschlichen Familie nicht unähnlich, das wüssten die Lausitzer Wolfsexperten seit Jahren. Man habe in diesem Fall erleben können, „dass ein Wolf offenbar einen eng verwandten Artgenossen quasi zu Grabe trägt und versucht zu verhindern, dass der fremde Beutegreifer Mensch darauf zugreift“. Dabei habe der Wolf einem Menschen die Zähne gezeigt, weil sich dieser ihm zu sehr genähert hat. Nicht der Wolf hat sich dem Menschen genähert, und mitnichten sei von einem Angriff die Rede. Zähne fletschen sei natürliches Verhalten gewesen. „Jedes Wildtier, ob Honigbiene, Wildschwein oder Wolf, wird sich wehren, wenn es in die Enge getrieben wird.“

Stephan Kaasche, Referent für das Kontaktbüro, meint, so etwas sei nur extrem selten zu beobachten. Generell gebe es allerdings einige wenige Beispiele in der Tierbeobachtung, die man mit Trauer oder Fürsorge deuten könnte. So fütterten Wölfe in Kanada einen verletzten Artgenossen monatelang, bis er wieder fit war. Es gebe auch Straßenhunde, die angefahrene oder getötete Hunde bewachen oder von der Straße zerren. In Skandinavien habe man Bärenmütter beobachtet, die ein totes Junges vergraben haben. Dass Wölfe tote Rudelmitglieder fressen, sei nur in Ausnahmen – zum Beispiel bei extremem Hunger – denkbar. Es gebe in der Lausitz, besonders jetzt im Herbst, aber genug Wild.

Kurt Kotrschal, österreichischer Biologe, Verhaltensforscher, Autor und Wolfsexperte, findet, wolfstypisch sei an diesem Fall, „dass Wölfe recht flexibel in ihrem Verhalten sind“. Zwischen den beiden Wölfen müsse eine Beziehung bestanden haben, die so stark war, dass sie offenbar auch die Scheu vor Menschen überwog. „Relativ typisch für Wölfe ist, dass sie einander zumindest im nahen Verwandtenkreis beistehen und dass sie zusammenstehen, wenn sie Druck von außen bekommen, etwa im Falle der Bedrohung durch ein anderes Rudel, in diesem Fall auch durch Menschen.“ Möglicherweise lasse das Verhalten darauf schließen, dass der Unfall nahe am Versammlungsplatz beziehungsweise am Zentrum des Rudel-Territoriums passierte.

Bei dem toten Tier handelt es sich, laut Kontaktbüro, vermutlich um einen Wolf aus dem Nochtener Rudel, das dieses Jahr Nachwuchs hatte. Der tote Welpe wurde nach Berlin ins Institut für Zoologische Wildtierforschung gebracht.