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„Der coolste Lehrer der Welt“

Thomas Kolitsch ist Pädagoge am Gymnasium in Eilenburg. Und was für einer. Seine Schüler haben ihn für den „Deutschen Lehrerpreis“ vorgeschlagen. Und er hat ihn bekommen.

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© Juergen Loesel

Sven Heitkamp

Auf dem Abiball im Bürgerhaus Eilenburg muss Thomas Kolitsch um Fassung ringen. Es ist Samstagabend, der 17. Juni 2017, und der Lehrer für Deutsch und Englisch am Martin-Rinckart-Gymnasium hat gerade ein Video über sich gesehen. Stefan Löwe, einer seiner Abiturienten aus dem Vorjahr, hat es eingespielt, sechs Minuten und 18 Sekunden lang. Im Vorspann steht irgendetwas vom Deutschen Lehrerpreis. Zu pompöser Streichermusik fliegt eine Kamera über Eilenburg und landet vor dem gelbblauen Schulgebäude aus den 90er-Jahren. Dazu sagt eine Männerstimme aus dem Off: „Eilenburg – eigentlich nicht sehr weltbewegend. Doch mitten in einer Schule befindet sich etwas Einzigartiges. Denn hier in Eilenburg gibt es den vermutlich coolsten und geilsten Lehrer der ganzen Welt.“

Dann sieht man Schüler erzählen, warum Thomas Kolitsch den Deutschen Lehrerpreis verdient hätte: Für seine Art, wie er mit Schülern umgeht! Für ihn sind alle Kinder gleichberechtigt! Er interessiert sich für sie! Sein ganzer Unterricht eigentlich! Es ist sehr verständlich und kommt gut rüber! Sein Humor! Er weiß sehr viel!

Die ersten Gymnasiasten, die der Lehrer im Frühjahr 2016 zum Abitur geführt hat, haben sich mit diesem Video für seinen Unterricht bedankt, und Kolitsch für die Auszeichnung des Deutschen Philologenverbandes und der Vodafone-Stiftung vorgeschlagen. Am Montag wurde er tatsächlich in Berlin mit 14 Kollegen aus ganz Deutschland für sein herausragendes pädagogisches Engagement geehrt.

Nun sitzt Thomas Kolitsch, 41, runde Nickelbrille, Stoppelfrisur, blauer Pulli, in einem Wintergarten in der Eilenburger Schule und muss Reportern seine Ehrung erklären. Er windet sich etwas, er mag nicht im Mittelpunkt stehen und hat schon Interviewanfragen abgesagt. „Ich möchte nicht über andere erhoben werden oder kluge Ratschläge erteilen“, sagt er. „Es gibt hundert Arten, ein guter Lehrer zu sein.“ Seine Art heißt: Offenheit, Wertschätzung, Leidenschaft. Er spricht mit ruhiger, sanfter Tonlage, aus seinen Augen blitzt der Schalk. Wenn er erzählt, malen seine Hände Kreise und Linien in die Luft. Er lacht viel und scheut sich nicht, über seine Gefühle zu sprechen. Als seine ehemaligen Schüler auf der Abitur-Feier im Bürgerhaus das Video einschalteten, sei ihm schwindelig geworden vor Rührung, erzählt er. „Die haben Sachen gesagt, da hab ich mich tief verstanden gefühlt.“

Ein Schlüssel zu seinem Glück ist die Leidenschaft für Literatur. „Man sollte lieben, was man tut“, sagt Kolitsch. „Ich habe eine große Menschenliebe.“ Und er liebt seine Helden der Literatur: Franz Kafka, William Shakespeare, Stephen King. Durch sie ist Kolitsch überhaupt Lehrer geworden: Weil er, der frühere Altenpfleger, Jahrgang 1976, wann immer es geht, ein Buch vor der Nase hat. Nach dem Abitur in den Leistungskursen Deutsch und Englisch absolviert er seinen Zivildienst in einem Altenheim in seiner Heimatstadt Meerane, er liebt den vertrauensvollen Umgang mit den alten Menschen.

Nach einem kurzen, freudlosen Ausflug in ein Journalistik-Studium wird er Krankenpfleger im Leipziger Diakonissen-Krankenhaus, dann arbeitet er beim Pflegedienst der Diakonie. Eigentlich will er nie Lehrer werden, aber er fällt auf, weil er selbst in der Mittagspause Sekundärliteratur zu Kafka liest. Ein alter Freund schickt ihn dann endlich zum Literatur-Studium. Kolitsch studiert Lehramt, weil sein Abschluss nicht brotlos werden soll, und weil er es von Kindheit an so kennt: Auch seine Eltern sind Lehrer. Der Vater hat ihn ein Jahr lang in Musik unterrichtet, er ist wohl auch ein Vorbild. Ihn hat Thomas Kolitsch als Ersten angerufen hat, als er von seinem Preis erfuhr.

„Ich bin total glücklich, dass ich nicht den klassischen Weg Schule–Hörsaal–Schule gegangen bin. So kann ich den Beruf viel mehr genießen“, sagt Kolitsch. Die Hingabe zur Literatur ist ihm dabei geblieben. „Ich kann mit intelligenten jungen Menschen in einem Raum sitzen und mich über Wörter unterhalten. Dafür müsste ich eigentlich Geld bezahlen, statt welches zu kriegen“, sagt er lachend. Aber wie gewinnt man pubertierende 15-Jährige für Shakespeare? „Man begeistert andere, indem man selbst von etwas begeistert ist.“

Ein Teil seiner Beliebtheit liegt auch in der Wertschätzung, die der Pädagoge seinen Schülern entgegenbringt. Sie haben das Gefühl, dass er ihnen wirklich zuhört, und sie hören ihm ebenso zu. „Statt fast einzuschlafen, haben wir oft an seinen Lippen gehangen“, erzählt der Ex-Abiturient und Filmemacher Stefan Löwe. „Er vermittelt sein großes Wissen nicht mit Tafel und Folien, sondern im Gespräch.“ Der Jahrgang war der Erste seiner Karriere, den Kolitsch zum Abitur geführt hat. Er habe offen mit ihnen zusammen gelernt, wie man das überhaupt macht, sagt er. Diese Ehrlichkeit hat funktioniert – sie hat seine Autorität nicht untergraben.

Als Kolitsch selber Vater wurde, ist ihm noch ein Licht aufgegangen. „Die Geduld, die ich meinen Kindern entgegenbringe, möchte ich auch Schülern entgegenbringen“, erzählt er. „Ich muss niemanden anschreien, um Autorität zu haben.“ Er würde am liebsten auch ohne Noten unterrichten. Er will keine Angst verbreiten, sondern erklären. Er schreibt keine unangekündigten Tests und er gibt keine Hausaufgaben auf. Aber er akzeptiert das Schulsystem und unterläuft es nicht. „Ich möchte mit den Büchern jeden erreichen. Aber wenn jemand abends kein Buch aufschlägt, kann ich auch damit leben“, sagt er. Wichtig ist ihm, dass die Schüler klüger werden und dass sie Fragen haben. Dass sie lernen, die Welt und die Wörter aus verschiedenen Perspektiven zu sehen und dass sie begreifen, wie kompliziert das Leben ist. „Nur wenn sie das verstehen, werden sie nicht jedem alles glauben.“

Sein Referendariat hat Kolitsch 2010 am Leipziger Sportgymnasium absolviert, ausgerechnet er, der Büchernarr, dem Sport nicht viel bedeutet. Das Landesgymnasium ist eine Eliteschmiede für den deutschen Spitzensport. „Was diese Gymnasiasten neben dem Unterricht leisten, hat mich Demut gelehrt“, sagt er. „Dort habe ich gelernt, dass man auch ohne Hausaufgaben zum Abitur kommen kann – weil diese Schüler objektiv keine Zeit für Hausaufgaben haben.“ Nur einmal ist er mit seiner leidenschaftlichen Art fast gescheitert. Nach dem Referendariat sollte er angehende Kfz-Mechaniker in seinen Fächern unterrichten. Doch deren Interesse ging gegen null. Dann klingelte das Telefon. Das Martin-Rinckart-Gymnasium suchte Ersatz für eine schwangere Kollegin. Kolitsch hatte 24 Stunden Bedenkzeit. Er schlief eine Nacht darüber. Dann sagte er zu. Seit Februar 2015 pendelt er täglich von Leipzig-Connewitz nach Eilenburg, 45 Minuten pro Weg. Er macht das, sagt er, weil er glücklich ist an der Schule. Weil das Kollegium ihm vertraut und ihm seine Freiheiten lässt, statt ihn zu kontrollieren.

Andreas Fromm ist stellvertretender Schulleiter, und er schätzt die ruhige, besonnene Art des Kollegen, auf Schüler zuzugehen. Er freut sich über den Lehrerpreis für Kolitsch, lässt aber auch nicht unerwähnt, dass zu einer großen Einzelleistung immer ein kollegiales Team und ein gutes, offenes Klima gehören. Dann fällt Fromm noch eine Geschichte zu Kolitsch ein. Wenn das Handy eines Schülers aus Versehen im Unterricht klingelt, muss der Sünder keine Strafarbeiten schreiben, sondern einen Kuchen für die Klasse backen. „Das ist eine Spielregel, von der alle etwas haben“, sagt Fromm schmunzelnd. Manchmal haben seine Schüler ein Handy extra klingeln lassen.

In der Lehrerpreis-Jury saß auch ein anerkannter Fachmann aus Sachsen: Frank Haubitz, Schulleiter eines Dresdner Gymnasiums, fast 20 Jahre Vorsitzender des Philologenverbandes und im Herbst für 56 Tage Kultusminister. Offizielle Glückwünsche durfte aber sein Nachfolger Christian Piwarz (CDU) überbringen. „Dass seine Schülerinnen und Schüler ihn für den Deutschen Lehrerpreis vorgeschlagen haben, ist die schönste und gleichzeitig größte Bestätigung für seine engagierte Arbeit“, sagt Piwarz. „Schule lebt von guten Lehrerinnen und Lehrern, die mit Herzblut und Kreativität unterrichten und sich um jeden einzelnen Schüler bemühen.“