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Wie sage ich es meiner Tochter?

Matthias Wingerter über sein Leben als schwuler Vater und Anfeindungen im Alltag.

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© René Meinig

Von Julia Vollmer

Liebst du eine andere Frau? Diese Frage seiner Ehefrau war der Anfang vom Ende seiner Ehe, aber auch der Anfang seines Coming-out. In dieser Nacht, irgendwann 2004, während sie nach einem Streit schlaflos nebeneinander im Bett lagen, gestand Matthias Wingerter seine Verwirrung. Denn die zweite Frage seiner Frau „Oder bist du schwul?“ konnte er nur mit einem „Ich weiß nicht“ beantworten. Diese Nacht rüttelte ihn auf. Ein Umzug und eine Erkrankung an der Schilddrüse ließen ihn sein Leben überdenken. „Mein Dilemma: ich war Leiter einer katholischen Bildungsstätte. Weder eine Scheidung noch ein Outing als schwuler Mann sind dort einfache Dinge“, erzählt er. Und die für ihn wichtigste Überlegung: wie sage ich es meiner Tochter? Die 1992 geborene Anna-Lena war damals zwölf Jahre. Zu ihr hatte Matthias Wingerter seit ihrer Geburt eine besonders innige Bindung.

Am Ende dieser Überlegungen stand der Gang zu einer Selbsthilfegruppe in Göttingen. Schwule Väter hieß sie. Dort traf er seinen heutigen Freund – Matthias. Nicht nur der Name ist der gleiche, auch er ist Vater einer Tochter. Es traf die beiden wie ein Blitz, die Gefühle fuhren Achterbahn. Doch erst mal mussten einige Dinge geklärt werden, bevor sie diese Liebe leben konnten. Wichtig war Matthias Wingerter und seiner Frau, offen mit ihrer gemeinsamen Tochter zu sprechen. „An einem Sommertag nach einem gemeinsamen Freibad-Besuch zögerte meine Frau mit dem Gespräch, doch ich wollte es durchziehen“, so der heute 50-Jährige. Anna-Lenas Reaktion auf die Nachricht – wir trennen uns, weil ich schwul bin – war zunächst erwartungsgemäß geschockt, und sie weinte. Dem Schock folgte schnell das Verständnis und ganz viele Fragen. Wie geht es jetzt weiter? Bleiben wir eine Familie? Viele Abende voller Gespräche folgten. Auch seine Eltern waren über die Nachricht verwirrt und erschrocken. Von der Mutter kam aber schnell der Satz „Du bist unser Kind, und wir lieben dich.“

Zunächst blieb der Teenager bei seiner Mutter in der gemeinsamen Wohnung. Doch nachdem diese ihren Umzug in ihre alte Heimat ankündigte, fragte Anna-Lena ihren Vater: Darf ich zu dir ziehen? Auf einen Schlag wurde Matthias Wingerter alleinerziehender Vater, ihre Mutter sah das Mädchen alle zwei Wochen am Wochenende. Gab es Themen zwischen Vater und Tochter, für die er sich die Meinung einer Frau gewünscht hätte? „Wir hatten schon immer eine gute Bindung, konnten über alles reden“, so der Bildungsreferent. Egal, ob Liebeskummer oder Streit mit der Freundin – alle Dinge wurden geteilt. „Jede Frau wünscht sich doch einen schwulen besten Freund“, erzählt er heute lächelnd.

Aufregend war für Anna-Lena die erste Begegnung mit Matthias, mit dem neuen Freund ihres Vaters. Dieser wohnte in Halle an der Saale, die beiden Männer führten sieben Jahre lang eine Fernbeziehung. Sie besuchten sich jedes Wochenende und wann immer die Zeit es zuließ. „Ich verliebte mich jedes Mal wieder bis über beide Ohren“, schwärmt Matthias Wingerter. Heute leben sie zusammen in Loschwitz und haben sich diese Liebe erhalten.

Auch die Chemie zwischen Tochter Anna-Lena und dem neuen Mann im Leben ihres Vaters stimmte, obwohl es am Anfang für sie ungewohnt war, wenn sie Küsse zwischen den beiden beobachtete. „Unsere Tochter ist mit zwei Papas und einer Mama und deren Freund aufgewachsen – irgendwann war das für sie ganz normal.“ Bevor sie ihren Freundinnen oder ihren Partner von dem Liebesleben ihres Vaters erzählte, war sie schon immer ein bisschen nervös, hatte Angst vor einer negativen Reaktion. Doch die blieb zum Glück immer aus, erzählt Matthias Wingerter.

Negative Reaktionen musste er aber selbst das ein oder andere Mal erleben. „Als wir im Urlaub Händchen haltend durch die Straße liefen, kam uns eine Gruppe Jugendlicher entgegen und spuckte vor uns auf den Boden“, erzählt Matthias Wingerter, der heute als Berater bei der Arbeitswohlfahrt am Schillerplatz arbeitet. Doofe Blicke gibt es auch öfter, wenn er sich mit seinem Partner in der Öffentlichkeit zeigt.

Um anderen Männern Mut zu machen, sich zu outen und zu ihrer Sexualität zu stehen, gründete Matthias Wingerter vor drei Jahren die Selbsthilfegruppe „Schwule Väter“. Einmal im Monat treffen sie sich. „Viele Männer leben jahrelang zwei Leben, sie wollen ihre Familie nicht verlieren und bleiben deshalb in ihren Ehen“, sagt er. Den Sex holen sie sich woanders. Die Gruppe soll ihnen Mut machen und Raum geben, von ihren Problemen und Erlebnissen zu erzählen. Die Schwulen Väter sind in der kommenden Woche zu Gast bei einer Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung. Ihm selbst hat eine solche Gruppe geholfen. Und sie hat ihm die Liebe gebracht. Matthias und Matthias werden diese Liebe 2018 besiegeln und heiraten.

Das nächste Treffen der „Schwulen Väter“ ist am Donnerstag um 19.15 Uhr im Gerede eV. auf der Prießnitzstraße 18.

Die Veranstaltung „Und was sagen die Kinder dazu?“ der „Weiterdenken — Die Heinrich-Böll-Stiftung“ findet am 20. Oktober um 19 Uhr im Literaturhaus Villa Augustin auf der Antonstr. 1 statt.