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Wenn Sprache keine Worte braucht

Wie zwei gehörlose Frauen darum kämpfen, als Erzieherinnen in einem Kindergarten in Pieschen arbeiten zu dürfen.

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© Christian Juppe

Von Henry Berndt

Zeit für Vesper. Es gibt Schnitte mit Salami. Bevor sie reinhauen, rufen zwei Mädchen am Tisch im Essensraum kichernd: „Pittiplatsch der Liebe, hat ’ne große Rübe, hat ’nen dicken Bauch, und Hunger hat er auch.“ Bei jedem Wort formen die beiden Zeichen mit ihren Armen und Händen. Von Anfang an haben sie hier im Kindergarten auf der Maxim-Gorki-Straße in Pieschen die Gebärdensprache gelernt. Einige ihrer Spielkameraden können nicht sprechen und hören und sind auf die Zeichen angewiesen. An der Wand hängen Zettel mit den Gebärden für Hühnerfleisch und Gurke. Das war das Mittagessen.

Im Sommer 2015 wurde der Kindergarten in einem denkmalgeschützten Gebäude eröffnet, das in der DDR lange Zeit als Kinderwaisenhaus genutzt wurde. Maximal 110 Betreuungsplätze für Kinder ab drei Jahren gibt es jetzt hier. Zurzeit besuchen 72 Kinder die Einrichtung, drei von ihnen sind hörgeschädigt. Die Kita wird offiziell als bilingual geführt, also zweisprachig. Auch die Erzieher haben sich die Gebärdensprache angeeignet.

Betreuer ja, Erzieher nein

Für zwei Frauen im Haus ist der Umgang mit hörgeschädigten Kindern dagegen ganz natürlich. Jeanette Dümichen und Selina Kallauch sind beide selbst gehörlos und arbeiten hier bislang als „pädagogische Mitarbeiter“. Um sich Erzieherin nennen zu dürfen, mehr Verantwortung übernehmen zu können und letztlich auch mehr Geld zu verdienen, brauchten die beiden eine Ausbildung. Und dort beginnt das Problem. Bislang will niemand die Kosten für die Gebärdendolmetscher übernehmen, die sie für die Ausbildung zwingend benötigen.

Der Eigenbetrieb Kindertagesstätten als Arbeitgeber der beiden finanziert ihre Gehälter bislang außerhalb des Personalschlüssels und könne nicht mehr leisten, wie Betriebsleiterin Sabine Bibas betont. „Wir haben aber großes Interesse daran, dass die beiden bald als anerkannte Erzieherinnen bei uns arbeiten können.“ Muttersprachler würden den Kindern ein viel authentischeres Bild vom Leben ohne Worte vermitteln können, als ihre sprechenden Kollegen. Gleichzeitig hätten die gehörlosen Kinder jemanden an ihrer Seite, der ihre schwierige emotionale Lage besser nachempfinden könne.

Beim Arbeits- und Sozialamt kamen die Frauen allerdings nicht weiter und hofften zuletzt, dass ihnen doch der Kommunale Sozialverband Sachsen den Dolmetscher zur Verfügung stellen würde. Doch auch dort sieht man sich auf SZ-Anfrage „sachlich nicht zuständig“ und verweist darauf, dass es sich ja um keine Weiterbildung, sondern eine Umschulung handele.

Selina Kallauch und Jeanette Dümichen sehen sich in einer Sackgasse. Beruflich fühlen sie sich am Ziel ihrer Träume, doch das Handwerkszeug für ihre Arbeit wird ihnen verwehrt. Dabei würden sie die Ausbildung gemeinsam machen, damit Kosten gespart werden könnten. „Jeder lehnt mich ab, aber keiner sagt, was ich stattdessen tun soll“, sagt Jeanette Dümichen und macht eine Pause. Für das Gespräch mit der Presse unterstützt sie eine befreundete Dolmetscherin.

Jeanette Dümichen ist schon seit der Eröffnung des Kindergartens an Bord. Die Mutter von zwei Kindern lernte in der DDR Zahntechnikerin – einen der wenigen Ausbildungsberufe für Hörgeschädigte, die es damals gab. 15 Jahre arbeitete die 38-Jährige in diesem Job, wurde aber nie glücklich. „Ich fühlte mich zu jung, um diese Barrieren zu akzeptieren, und wollte meinen eigenen Weg gehen.“ Seit sieben Jahren kämpft sie nun für ihren Wechsel in einen sozialen Beruf. Gern zitiert sie den Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention, dem zufolge auch behinderte Menschen das Recht auf lebenslanges Lernen haben müssen. Wieder eine lange Pause. In ihren Augen ist Verzweiflung zu lesen.

Selina Kallauch ist 32 und ließ sich vor neun Jahren in Chemnitz als Feinwerkmechanikerin ausbilden. Auch sie bereute bald ihre Berufswahl. „Ich habe mich immer viel lieber mit Kindern beschäftigt und im Gehörlosen-Klubheim gearbeitet“, sagt sie. Seit Januar 2016 gehört sie zum Team der Kita auf der Maxim-Gorki-Straße. Ihr Vertrag ist bislang befristet. Vormittags betreut sie Kindergartenkinder, nachmittags hilft sie im Hort aus. Als „pädagogische Mitarbeiterin“ darf sie weder eine Gruppe leiten, noch Eltern beraten. „Das ärgert mich oft. Ich würde so gern eigenständig agieren können.“

Hatten die sprechenden Kinder in der Einrichtung anfangs noch kleinere Berührungsängste, verloren sie bald jede Scheu gegenüber den beiden gehörlosen Frauen. „Es ist unglaublich, wie schnell das bei Kindern geht“, sagt Jeanette Dümichen. „Inzwischen klopfen sie mir auf die Schulter, wenn die Klingel geht. Die haben so ein großes Verantwortungsgefühl.“ Wenn sie oder Selina Kallauch im Raum sind, fangen viele Kinder automatisch an, sich auch untereinander in Gebärdensprache zu verständigen. Schon die Kleinsten erlernen wichtige Bedürfnisgebärden wie „Ich muss pullern“ oder „Ich habe Hunger“. Glücklicherweise seien Kinder unheimlich neugierig und hätten keinerlei Befindlichkeiten, sagen die beiden Frauen. Anders als so manche Behörde.

„Für uns ist es wichtig, dass alle Erzieher auch fachlich auf demselben Level sind“, betont Kita-Leiterin Christiane El Aboudy-Kalz. „Sie brauchen ein fachliches Fundament, um zu wissen, was offene Arbeit ist oder eine leistungsorientierte Bewertung.“ Weder sie als Leiterin noch sonst irgendjemand in diesem besonderen Kindergarten hat die Hoffnung aufgegeben, dass sich Jeanette Dümichen und Selina Kalauch bald Erzieherinnen nennen dürfen. Sie bringen alles mit. Nur Gehör verschaffen können sie sich nicht alleine.