Merken

Wenn plötzlich alle wissen, wer arm ist

Hartz IV soll bald auch an der Supermarktkasse ausgezahlt werden. Auch in Radeberg?

Teilen
Folgen
© Thorsten Eckert

Von Julia Vollmer und Jens Fritzsche

Radeberg. Hartz IV an der Supermarktkasse? Oder in der Drogerie? Dort, wo sonst Lebensmittel und Kosmetik über das Kassenband laufen, soll künftig auch das Arbeitslosengeld II, kurz Hartz IV, ausgezahlt werden. Diese Idee der Arbeitsagentur sorgt nicht nur für Aufsehen, sondern auch für Kritik. Und für Unbehagen. Und das im Übrigen auch bei denjenigen, die das Geld auszahlen sollen, wenn die Idee tatsächlich Realität werden würde.

Was sagt der Radeberger Supermarkt-Chef zur Idee?

Grundsätzlich, sagt Radebergs Edeka-Chef John Scheller, grundsätzlich habe er keine Probleme damit, zusätzliche Dienstleistungen in seinem Markt im Radeberger Stadtzentrum anzubieten. So hat er ja zum Beispiel auch einen Post-Schalter eingerichtet. „Aber natürlich muss man immer darauf achten, dass die Menschen ihre Würde behalten“, unterstreicht er. „Und ob da eine Supermarkt-Kasse der richtige Ort zur Auszahlung von Sozialleistungen ist?“ Nicht zuletzt, weil ja hinter den Betroffenen in den Schlangen auch jede Menge Leute stehen, die dann genau sehen würden, dass da jemand Hartz IV ausgezahlt bekommt. „Und gerade in Städten wie Radeberg, in denen man sich durchaus gegenseitig kennt, ist das nicht gut“, findet der Edeka-Chef. Am schon angesprochenen Post-Schalter hingegen, „da wäre das sicher ohne Probleme und für alle anderen unauffällig möglich“, so John Scheller.

Wie fühlen sich eigentlich die Betroffenen in der Situation?

Dass die Bedenken des Radeberger Edeka-Chefs nicht aus der Luft gegriffen sind, bestätigt dann auch zum Beispiel Stefan Werner. Er ist selbst Betroffener und hat lange überlegt, ob er in der Zeitung darüber sprechen will. Erzählen möchte der 46- Jährige, der im Dresdner Osten lebt, wie sich viele Erwerbslose dabei fühlen, wenn sie von diesen Plänen lesen und wie sich das Leben mit rund 400 Euro im Monat anfühlt. „Wenn es wirklich so kommen sollte, dass Hartz IV-Empfänger durch die Auszahlung identifizierbar sind, ist das sehr stigmatisierend“, so Stefan Werner. Plötzlich wüssten dann alle, wer arm ist. Doch er warnt auch vor Panikmache. „Wir müssen erst mal abwarten“, sagt der 46-Jährige, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will.

Kennt der Supermarkt dann alle persönlichen Daten des Betroffenen?

Damit Arbeitslose bei den Händlern Geld bekommen, müssen sie einen Zettel mit einem Barcode zeigen, den sie sich im Jobcenter oder der Arbeitsagentur abholen können. Dieser soll an der Kasse eingescannt und der Betrag sofort ausgezahlt werden, so die Pläne der Arbeitsagentur. Der Vorgang, also die Verrechnung zwischen auszahlender Kette und dem Anbieter Cash Payment Solutions, finde ohne Austausch persönlicher Daten statt, so Grit Winkler von der Dresdner Arbeitsagentur. Das Verfahren sei vor allem für Menschen ohne eigenes Konto gedacht. Bislang gab es dafür Kassenautomaten in den Jobcentern, diese sollen nun aus Kostengründen wegfallen. Bis Ende 2018 soll das neue Verfahren zum Beispiel in Dresden eingeführt werden.

Hat auch der Landkreis für seine Jobcenter entsprechende Ambitionen?

Im Landratsamt Bautzen – das ja für die Jobcenter im Landkreis und damit auch für die Betroffenen im Rödertal zuständig ist – hat man derzeit allerdings keine wirklich großen Ambitionen, ähnliche Wege in Sachen Auszahlung an der Supermarktkasse zu gehen, sagt Kreissprecher Gernot Schweitzer auf SZ-Nachfrage. „In unserem Jobcenter im Landkreis gab und gibt es keine Überlegungen, Leistungen an der Supermarkt-Kasse auszahlen lassen zu können“, unterstreicht der Kreissprecher.

Ist das Ganze nur eine Spar-Idee, wie Verbände kritisieren?

„Eine Auszahlung an Supermarktkassen macht öffentlich sichtbar, wer Empfänger ist und wer nicht“, betont dann auch die Dresdner Arbeiterwohlfahrt-Sprecherin Diana Uhlmann. In der Regel seien diese Menschen nicht freiwillig arbeitslos und hätten schon damit zu kämpfen, den Anschluss zu einer Wiederbeschäftigung nicht zu verlieren. „Die Bundesagentur will durch die Abschaffung der Auszahlungsautomaten Kosten senken, den Preis zahlen jedoch die Betroffenen in Form von Stigmatisierung und Preisgabe persönlicher Daten“, sagt Carsten Schöne vom Paritätischen Wohlfahrtsverband. Ähnlich sieht das auch Linken-Sozialpolitikerin Anja Stephan. „Für wichtiger halte ich, dass jeder Mensch Zugang zu einem kostenfreien Girokonto hat, damit man erst gar nicht in so eine Notsituation gerät.“ Auch vielen anerkannten Flüchtlingen, die Hartz-IV-berechtigt sind, gelingt es oft nicht, ein Konto zu eröffnen.

Ist das Hauptproblem eigentlich der schwere Zugang zu einem Giro-Konto?

Das Problem der Schwierigkeiten bei der Konto-Eröffnung bereitet Stefan Werner, der ehrenamtlich eine Beratung für Erwerbslose im Haus der Begegnung anbietet, große Sorgen. Er hört oft von den Problemen, ein Konto zu eröffnen. Er selbst ist seit beinahe sechs Jahren arbeitslos. 2012 musste er seinen Job im öffentlichen Dienst aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Worunter genau er leidet, will er nicht sagen. Seitdem ist er auf der Suche nach einer Stelle, schreibt Bewerbungen. Er lebt von 409 Euro im Monat, seine Miete und die Nebenkosten bezahlt das Jobcenter. „Im Gegensatz zu vielen anderen habe ich noch nie eine schlechte Erfahrung mit dem Amt gemacht, die Kommunikation läuft gut“, sagt er. Um mit den rund 400 Euro über die Runden zu kommen, muss er genau überlegen, wie viel Geld er wofür ausgibt, und wann. „Mein Luxus, den ich mir gönne, ist mein Telefon mit Vertrag für 50 Euro im Monat“, erzählt der Dresdner. Er will für sein Umfeld erreichbar sein und Kontakte pflegen. Dafür versucht er bei den Stromkosten zu sparen, heizt nur so viel, wie nötig und schaffte den Fernseher ab. Zu viel Stromverbrauch. Für Kleidung und Schuhe gibt er kaum Geld aus, nur alle vier oder fünf Jahre kauft er sich neue. Dann müssen diese durchhalten. Ab und zu gönnt er sich mal einen Döner. „Das ist Luxus für mich“, sagt er. Ihn gruselt der Gedanke, wie viele Lebensmittel täglich weggeworfen werden, sagt er. Stefan Werner kann nicht verstehen, warum viele Supermärkte ihre Produkte lieber vernichten, statt sie Bedürftigen zu geben.

Warum gibt es keine deutschlandweit einheitlichen Regelungen?

Eine Sache ist für den Dresdner auch völlig unverständlich. Immer wieder fällt ihm auf, wie respektlos mit Menschen, die Sozialleistungen beziehen, umgegangen wird. „Ich war kürzlich in Berlin und wollte mit meinem Dresden-Pass ein Theaterstück besuchen, da wurde ich angeraunzt, dieser gelte nur für Dresden“, sagt er. Er soll doch seinen Hartz IV-Bescheid immer bei sich führen. Das sei unpraktisch und diskriminierend zugleich, sagt er. Hier seien einheitliche Regelungen notwendig.