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Was wollen Moslems bei Ungläubigen?

Die wahre Herausforderung wird für sie das Akzeptieren einer Werteordnung, die ihren Traditionen scharf widerspricht. Eine Analyse aus ungarischer Sicht.

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© Reuters

Von János Gadó

Die primäre Quelle der Flüchtlingsflut durch Ungarn ist das Herz der islamischen Welt mit den Zentren Bagdad und Damaskus. Beide Städte, einst stolze Bastionen der islamischen Zivilisation und der arabischen Kultur, sind jetzt Hort der tiefsten Krise des Islam.

Unser Autor: János Gadó ist Soziologe und lebt in Budapest. Er ist Redakteur der jüdischen Monatszeitung Szombat.
Unser Autor: János Gadó ist Soziologe und lebt in Budapest. Er ist Redakteur der jüdischen Monatszeitung Szombat.

Beide Länder, die hier einst existierten, der Irak und Syrien, sind zusammengebrochen, im Großteil ihres Gebietes übernahmen mörderische Banden die Macht. Aus den nicht mehr lebensfähigen Städten und Provinzen fliehen die Einwohner, wohin sie können. Allein in Syrien sind elf Millionen Menschen geflohen, davon trieb es vier Millionen außerhalb der Landesgrenzen. Diese gewaltigen Wellen sind erst jetzt nach Europa gelangt. Die menschlichen Reserven sind unendlich, es ist unberechenbar, wie viele sich von der Größenordnung von elf Millionen auf den Weg machen – selbst, wenn wir wissen, dass die Mittellosen dafür nicht viele Chancen haben.

Die Lage erwies sich bislang als nicht beherrschbar: Es gelang nicht, die blutigen Konflikte einzudämmen, im Gegenteil, sie mündeten in Blutbädern, die jegliche Vorstellungskraft übertreffen. Auch gelang es nicht, die Flüchtlingsflut aufzuhalten. Nach den griechischen, mazedonischen und serbischen Behörden hat gerade eben die ungarische Polizei das Handtuch geworfen. Sie versucht es nicht einmal, die über die Autobahn Marschierenden zu stoppen, lieber hilft sie, damit die Flüchtlinge schnell das Land passieren.

Wie Lava nach einem Vulkanausbruch fließt die flüchtende Menschenmenge in die Richtung des geringsten Widerstandes, in die reichsten Länder der Europäischen Union.

Diese Länder – zumeist mit protestantischen Wurzeln – haben bislang nie gesehene Gipfel des Wohlstandes erreicht, weil es ihnen nach den Dramen des 20. Jahrhunderts gelungen ist, in ihrer Kultur eine Synthese von Solidarität und Autonomie herauszuarbeiten. Verantwortung für mich selbst: Autonomie; Verantwortung anderen gegenüber: Solidarität. Eine solche „erwachsene“ Gesellschaft lässt sich natürlich besser selbst weiterentwickeln als jene, in denen ein Gutteil der Energien durch die Bereicherung zulasten anderer, durch innere Konflikte und durch die Suche nach Sündenböcken verzehrt wird.

In diesen nordeuropäischen Ländern wurde das Prinzip der Solidarität nach 1945 (und vornehmlich nach 1968) stufenweise auf verschiedene als benachteiligt angesehene Gruppen ausgebreitet. Damals tauchte auch der Begriff political correctness auf, das sprachliche Äquivalent einer die Minderheiten schützenden Grundhaltung. Die friedliche Revolution von 1968 wird heute vermutlich noch nicht genug wertgeschätzt: Damals drehte sich die Kultur des Autoritarismus endgültig in eine Kultur der Solidarität.

Dieses neue weitreichende Solidaritätsprinzip verpflichtet jetzt die Öffentlichkeit und die Regierenden der reichen und erfolgreichen europäischen Staaten, die Geschädigten einer fremden Zivilisationskrise aufzunehmen. Diese andere Zivilisation kennt das Prinzip des Vertrauens nicht, spricht nur die Sprache des harten Befehls und der sofortigen Vergeltung; sie betrieb eine gnadenlose Kultur der Unterdrückung aller oben erwähnten Minderheiten, die von der europäischen Kultur nach 1968 unterstützt wurden.

Aber wer von Damaskus und Aleppo nach Hamburg oder Stockholm flieht, denkt über so etwas nicht nach, er wird vom Lebensinstinkt getrieben. Würde man die Flüchtlinge fragen, warum sie in einem „ungläubigen“ Land leben wollen, würden sie wohl praktische Antworten geben: Weil in Damaskus ihr Haus zerbombt und mehrere Angehörige getötet wurden, in Hamburg aber haben sie einen Bruder, der sie aufnimmt.

Über Werte und Prinzipien wird erst geredet, wenn sie in Hamburg zur Ruhe gekommen sind und sich dort Perspektiven auftun. Die wahre Herausforderung wird für sie nicht das Erlernen einer fremden Sprache oder eines unbekannten Berufes sein, sondern das Akzeptieren einer Kultur und einer Werteordnung, die ihren Traditionen scharf widersprechen. Werden sie denn akzeptieren, dass man Frauen und Kindern keine Ohrfeige gibt, obwohl sie es „verdient“ haben? Dass Mädchen im Minirock keine „Huren“ sind, die man getrost vergewaltigen dürfe? Und wenn eine solche Frau ihre Chefin werden würde? Dass Schwule, die zu Hause eingesperrt und hingerichtet wurden, hier auf der Straße „Paraden“ abhalten? Dass Juden, von denen sie hörten, sie seien die „Mörder arabischer Kinder“, hier frei herumlaufen, und man darf ihnen kein Haar krümmen? Dass in der Nachbarschaft ungestört Tempel diverser anderer Religionen stehen, voller sündiger „Götzenstatuen“?

Wie gehen Menschen mit dem Gefühl der Heimatlosigkeit um, die so sozialisiert worden sind, dass sie allein ihre Religion und ihre Bräuche als allgemeingültig und authentisch betrachten? Wie werden sich jene hereinfallenden Hunderttausende in eine Kultur der Toleranz und des Pluralismus integrieren, die in der Kultur der Intoleranz und einzigen Wahrheit aufgewachsen sind? Oder sind die jetzt Ankommenden, da aus der Mittelschicht, eher empfänglich für den westlichen Pluralismus?

Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass ein Großteil der in Europa lebenden Muslime zwar die örtliche Sprache lernt, sich aber kulturell nicht „unterordnet“. Sie leben oft zusammen in Stadtteilen mit muslimischer Dominanz, wo sie bestrebt sind, die von zu Hause mitgebrachte Kultur auch auf der Straße auszubreiten.

Das Elend der auf dem Boden des Budapester Ostbahnhofs liegenden heimatlosen Menschen löst verständlicherweise Solidarität und Hilfsbereitschaft aus. Die von Freiwilligen verteilte Nahrung, Kleidung und guten Worte entspringen edelsten Gefühlen. Und was in Ungarn eine Geste ziviler Freiwilliger ist, ist weiter westlich von uns offizielle Politik. Aber im Schicksal der Flüchtlinge und ihrer Kinder ist mit großer Wahrscheinlichkeit eine Anomie verpflanzt – ein Zustand fehlender oder schwacher sozialer Normen, Regeln und Ordnung. Und damit die Heimatlosigkeit im eigenen Leben und der darauf folgende Impuls der Rebellion.

Aus dem Ungarischen von Domokos Szabó

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die Sächsische Zeitung kontroverse Essays, Analysen und Interviews zu aktuellen Themen. Texte, die Denkanstöße geben, zur Diskussion anregen sollen.