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Vorposten der Rechtgläubigen

Im russischen Westen mögen die Leute nichts von einem neuen Kalten Krieg hören. Viele haben zwei Pässe und fahren lieber zum Einkaufen nach Estland.

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© ddp images/zuma

Von Klaus-Helge Donath, SZ-Korrespondent in Moskau

Die Pilger sind angetan. Atemberaubend ist der Blick vom nahe gelegenen Hügel über die Mauern auf das Kloster von Pskow-Petschory. Hinter der meterdicken Wehrmauer erheben sich die Türme der Klosteranlage. Die meeresblauen Zwiebelkuppeln sind mit goldenen Sternen übersät, sie funkeln in der prallen Mittagssonne. Aus der Ferne könnte es ein Märchenschloss sein. Ein Stück barocker Lebensfreude – das Kloster Swjato-Uspenskij unweit der Grenze zu Estland.

Für Gläubige aus den Tiefen Russlands wurde das Männerrefugium zu einem Wallfahrtsort. Für nicht wenige auch zu einem Vorposten der rechtgläubigen Rus, seit sich Russland wieder vom Westen abkapselt. Ein schauriges Geheimnis birgt die heilige Stätte. Tote hält sie am Leben. Sozusagen. In der weitläufigen Nekropolis unter der Klosteranlage sollen Tausende Mumien ruhen. Geologie und Klima konservieren die Körper, erzählt die russische Fremdenführerin Julia. Es klingt wie eine Metapher für Russlands derzeitige Verfassung. Besuch ist untersagt, lebende Tote empfangen nicht.

Die 35-Jährige ist selbstständig und betreut Reisende, die auf eigene Faust Russlands Westen erkunden wollen. „Ich kann mich vor Anfragen kaum retten“, sagt sie. Viele seien in letzter Zeit auf der Suche nach „ihrem Russland“. Pskow kletterte unter den heimischen Tourismusgebieten auf Platz fünf der Beliebtheitsskala. Die Geschichte hätte die Region um Pskow auch üppig bedacht, meint die zierliche Blonde.

In der Tat. Der Raum war hart umkämpft, zwei Welten trafen aufeinander, aus denen sich unterschiedliche Zivilisationsmodelle herausschälten. Auf russischer Seite obsiegte zuletzt die Deutung ewiger Bedrohung aus dem Westen und standhafter Gegenwehr. Natürlich lässt sich die Geschichte auch anders erzählen. Als Version eines russischen Kernlandes etwa, das an der Wiege noch nach Westen schaute.

So stand am Anfang im 9. Jahrhundert die heilige Stadtpatronin Olga. Die Waräger-Tochter bat den deutschen König Otto den Großen, ihr bei der Christianisierung behilflich zu sein. Olga war die erste Regentin der Kiewer Rus. Vielleicht waren es ihre skandinavischen Wurzeln, die sie Misstrauen gegen Byzanz hegen ließ. Ottos Ostfranken halfen, wohl halbherzig wie in der Ukraine heute.

Der Historiker Lew Schlosberg wird nicht müde, auch an spätere westliche Traditionen Russlands zu erinnern. An die unabhängigen mittelalterlichen Stadtrepubliken Nowgorod und Pskow. Schlosberg ist nicht nur der bekannteste Oppositionspolitiker in Pskow. Der 53-Jährige ist auch einer der unerschrockensten Männer im ganzen Land. Äußerlich kein Heldentypus, klein, untersetzt, und immer gedankenverloren.

Als der Kreml 2014 die Ostukraine besetzte, deckte er die namenlosen Gräber gefallener Fallschirmjäger auf. Verstohlen waren sie in der Umgebung von Pskow beigesetzt worden. Russland leugnet noch immer den Einsatz regulärer Soldaten. Kurz darauf wurde der damalige Chefredakteur der Pskowskaja Gubernija auf der Straße zusammengeschlagen. Täter wurden nie gefasst. Ein Überfall in einer verschlafenen Provinzstadt.

Apropos Fallschirmjäger: Die Pskower Eliteeinheiten sind Legende. 1968 schlugen sie die Reformbewegung des Prager Frühlings nieder, vor wenigen Tagen verlegte Moskau sie eilig an die ukrainische Grenze. Militärische Präsenz soll nun auch an der Grenze zum Baltikum verstärkt werden. Als Reaktion auf mobile Truppenverschiebungen der Nato. „Das wird die Atmosphäre verändern“, fürchtet der neue Chefredakteur der Pskowskaja Gubernija, Denis Kamalagin. Die Menschen in Pskow stehen den Nachbarn in Lettland und Estland nicht feindselig gegenüber. Im Gegenteil, Moskaus kriegerischer Ton kommt nicht gut an. Das verwundert auch nicht. Zwanzig Prozent der Bewohner in Grenznähe sind Staatsbürger Russlands und der EU. Mehr Menschen mit zwei Pässen gibt es sonst nirgends. Am Grenzpfosten entlarvt sich das Kriegsgeheul als Propaganda. Auch der kleine Grenzverkehr läuft. Wer keinen zweiten Pass besitzt, besorgt sich ein Schengenvisum. „Wegen des schlechten Rubelkurses fahren wir aber seltener rüber“, sagt die junge Bedienung im Supermarkt, die sanktionierten Käse auf der anderen Seite kauft. Früher fuhr sie regelmäßig zum Shoppen nach Tartu. „Weil es billiger geworden ist, kaufen die Esten jetzt mehr bei uns ein“, sagt sie. Auch der Tennisverein im Vorort Peskowitschi lädt estnische Spieler ein, sagt der Betreiber der nagelneuen Tennisanlage.

Pskows Bürgermeister Iwan Zezerski beklagt sich auch nicht über die Nachbarn. Sein Arbeitszimmer ist klein und bescheiden, außer zwei Tischen beherbergt es drei Fahnen: die von Russland, Pskow und der Kremlpartei mit dem Bären. Zezerski klagt nicht, die Sanktionen stören ihn aber. Sie haben ihm die zweite Tranche eines Kredits der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung vermasselt. Mit dessen Hilfe hoffte er, ein Trinkwasserproblem zu lösen. „Jetzt liegt das Projekt auf Eis, in Russland findet sich kein Investor“, sagt er. Was den Beamten genauso ärgert: Eine deutsche Brauerei schlich sich sang- und klanglos davon. Vor den Sanktionen hatte sie sich als Sponsor der Hansetage 2019 in Pskow angeboten.

Fürchtet er die Nato und Estlands Truppen vor der Haustür? Zezerski holt Luft. Schallend lacht die Mitarbeiterin. Unkontrolliert. Auf die leichte Schulter sei die Gefahr militärischer Eskalation nicht zu nehmen, sagt er mit erhobenem Zeigefinger zur Assistentin. Zezerski ist ein alter Hase. Er weiß, dass er den Kreml auch an der Stadtgrenze verteidigen muss. Pflichtschuldig. Am Wochenende fährt er wohl auch wieder rüber.

Die Hansetage wurden an Pskow vergeben, als Moskau den Westen noch nicht zum Gegner ausgerufen hatte. Pskows Anbindung auch an eine zweite andere Welt wollte schon das mittelalterliche Moskau nicht hinnehmen. Die selbstständige Republik war dem Kreml ein Dorn im Auge wie die benachbarte Hansestadt Nowgorod. Im Historischen Museum findet sich denn auch zur Hanse kein Hinweis. Sibyllinische Formulierungen umschreiben den gewaltsamen Anschluss an Moskau. „Das werden wir auf jeden Fall noch ändern“, meint der Bürgermeister energisch. Wenn der Geschichtsschreiber im Kreml ihn lässt. Das Bild der belagerten Festung darf keine Risse erhalten. Am Südufer des Peipussees wachen 500 Tonnen Metall darüber. Ein Denkmal für Alexander Newski, der 1242 in der Schlacht am Peipussee den Deutschen Orden bezwang. Es steht im Grünen am Rande der Kolchose „Pobeda“ (Sieg). Newski ist dienstältester Nationalheld. Er schlug die Deutschritter, stärkte die Orthodoxie und Moskaus Einfluss. Doch zu welchem Preis? Der Fürst machte sich mit den Besatzern der Goldenen Horde gemein.

Newskis Vermächtnis ist lebendig. Außenminister Sergej Lawrow drechselte daraus ein neues außenpolitisches Leitmotiv: Vor dem Westen auf der Hut sein – im Osten auf starke Verbündete bauen. Der Kreml verkauft es als Wende nach China.

Geschichte ist das Pfund, mit dem der Oblast wuchert. Pskow stand an der Krippe der Rus und wacht bis heute über ihr Wohl: „Wer erinnert sich noch, dass in unserem ,Radiosawod‘ Moskaus Raketenschutzschild entwickelt wurde“, sagt Lokalpatriot Schlosberg. Die Technik des Verteidigungsrings ist noch in Betrieb, sowjetische Wertarbeit. Unverwüstlich. Im Umbruch der 1990er fand sich niemand, der ein neues Konzept für die Fabrik entwickelt hätte. Sie verlor den Anschluss. Industrieunternehmen haben sich aus der Region ganz zurückgezogen.

Die Obdachlosen auf den Straßen verraten es. Der beschaulichen Stadt geht es nicht gut. Es sind viele, die den Touristen hinterherziehen, von Kirche zu Kirche, in der Hoffnung auf ein Almosen. Dafür wirft sich manch einer sogar in Schale, soweit es der Kleiderschrank zulässt.

Jeder fünfte Bewohner lebt unter dem Existenzminimum. In den letzten sechs Jahren ist die Bevölkerung in der Region um sechs Prozent geschrumpft. „Schneller als im 2. Weltkrieg“, schrieb die Lokalpresse. „Stattdessen haben wir dreimal so viele Schweine wie Einwohner – rund zwei Millionen“, sagt lachend Alexander Konoschenko, Chef des Bauernverbandes. Er beklagt die rücksichtslose Ansiedlung von gigantischen Viehzuchtkonzernen, die mit dem Kreml verbandelt und unangreifbar sind. Für die wenigen Kleinbauern fiele kaum noch ein Rubel Förderung ab. Was ihn jedoch ganz besonders ärgert: Die Nach-mir-die-Sintflut-Haltung der Konzerne: „Sie kippen die Gülle weg und versauen die Böden“.

Ein Viertel der Dörfer sei ausgestorben, „in einem Drittel leben noch vier, fünf Bewohner“, sagt er. Von Tausenden Bauernstellen in den 90ern seien nur noch einige Hundert übrig, rattert der promovierte Agrarwissenschaftler die traurigen Fakten runter. Gerade erst ist er vom Traktor geklettert. Der vierschrötige Mann liebt Hof und Beruf. Von Politik will er aber auch nicht lassen. „Wenn du dich nicht in die Politik einschaltest, kommt sie zu dir“, lautet sein Leitspruch. Er trat als Kandidat der demokratischen Partei Jabloko für die Duma in Pskow und in Moskau an – hatte aber keine Chance.

Bei der Sterbe- und Geburtenrate ist Pskow ebenfalls Schlusslicht. Nirgends haben Familien ein noch geringeres Einkommen. Die Balten jenseits der Grenze seien auch leidgeprüft, meint der Verbandschef. „Im Vergleich zu uns haben sie seit der Unabhängigkeit aber einen gewaltigen Sprung gemacht.“ Im russischen Nordwesten ist das zum Refrain geworden.

Geschichte und Patriotismus müssen das Gefälle zur EU mental ausgleichen. Dafür eignet sich auch die Kremlanlage von Isborsk zwischen Pskow und Petschora. Das Bollwerk zählt zu den ältesten der Rus. Etliche Invasoren scheiterten vor den Toren. Durch Russlands eigenen Drang nach Westen fiel es dann aber dem Vergessen anheim. Inzwischen haben rote, braune und rotbraune Intellektuelle den Ort gekapert. Hinter dem Isborsker Club – dem „Thing“-Tank – verbirgt sich das Reaktionärste, was Russland zu bieten hat. Ideologen wie der Eurasier Alexander Dugin, der stalinistische Publizist Alexander Prochanow oder Putins erratischer Wirtschaftsberater Sergej Glasjew gehören dem Orden an. Extremistische Scharlatane von rechts bis links mit Kremlzugang.

Auf einer Anhöhe in der Nachbarschaft haben sie eine Weihestätte errichtet: ein gewaltiges orthodoxes Kreuz auf steinernem Podest. In einer Holzhütte werden Bodenproben registriert, die Pilger aus fernen Ecken des Landes mitbringen. Danach vermengt der Wächter sie zu höherwertiger, russischer Mischerde. Daneben rosten Stahlhelme, Patronen und Handgranatenverschlüsse als Dreingaben. In Isborsk fiebert Russland: Zwischen Ressentiment und Selbstüberhöhung.

Millionen hat die aufwendige Restaurierung in Isborsk und in Peschory verschlungen. Julia zeigt auf das Mauerwerk. Riesige Brocken lösen sich aus dem Putz. Auch die nationalen Heiligtümer wurden von Korruption nicht verschont. Die Spur führt direkt ins Kulturministerium. In einer russischen Broschüre aus dem Jahre 2011 ist zu lesen: „Bis 1940 befand sich das Kloster auf dem Gebiet der Republik Estland. Auf dessen Erhaltung wirkte sich das positiv aus“. Ob die Neuauflage des Büchleins auf den Hinweis verzichten wird?