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Stalins letztes Aufgebot

Ja, er lebt noch. Wenn auch eher mühevoll. Der Komsomol ist noch gestriger geworden.

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© picture alliance / dpa

Von Klaus-Helge Donath

Geht es hier zum Leninschen Komsomol? Die Jugendlichen gucken entgeistert. „Was bitte? Da kommen Sie rund 25 Jahre zu spät“, prustet einer von ihnen los. Das „Offis“ des LKSM RF – des Leninistisch-Kommunistischen Verbands der Jugend der Russischen Föderation – ist nicht auf Anhieb zu finden. Weder gibt es einen Hinweis auf der Straße noch ein Schild an der Bürotür. Rund 40 Millionen Mitglieder zählte man noch in den 1980er-Jahren. Wer auf der Karriereleiter vorankommen wollte, tat gut daran, im Alter zwischen 14 und 28 Jahren dem Komsomol beizutreten.

Sekretär der Moskauer Niederlassung ist der 26-jährige Andranik Mkrtitschian, von Beruf Ingenieur für Wasserbauwesen. Drang nach Gerechtigkeit hätte ihn zum Kommunisten gemacht. Schon als Kind schleppte er Literatur nach Hause, die Bibliotheken nach dem Ende der Sowjetunion entsorgten. Er verschlang sie, erzählt er. Man hört es auch, Wortwahl und Argumente entstammen einer versunkenen Zeit. Waren die Eltern Kommunisten? „Nur mein Urgroßvater“. In Haltung und Sprache verkörpert Andranik Mkrtitschian schon jetzt einen perfekten Funktionär. Gestreifter Pullover und gestreifte Krawatte, „galstuk“ auf Russisch, lassen die Ästhetik der untergegangenen Epoche aufleben.

Er ziert sich, als er die Zahl der aktiven Komsomolzen in Moskau nennen soll. „Nicht wirklich viele“, windet er sich. „Landesweit sind wir mit mehr als 50 000 Aktiven aber eine der größten Jugendorganisationen“, führt er die Provinz rettend ins Feld. Linkssein ist wieder in Mode. Der Nachwuchs aus begüterten Kreisen kokettiert gerne damit. Der Ansturm auf den Komsomol bleibt jedoch aus. „Eine revolutionäre Situation ist nicht gegeben“, meint der Jungfunktionär.

Ein Gemisch aus Sozialromantik, Terrorrechtfertigungen und Reinwaschungen beherrscht die Rückschau auf die Sowjetgeschichte. Stalins Werke stehen in Neuausgabe im Regal, überwacht von einer blütenweißen Büste des Tscheka-Gründers Felix Dzierzynski, des ersten sowjetischen Geheimdienstchefs. „Wir sind Leninisten-Stalinisten“, sagt die 19-jährige Jurastudentin Darja Bagina. „Beide Führer sind für uns gleich wichtig.“ Stalin ist inzwischen resozialisiert worden. Der Kreml bereitete seine Rückkehr ins Pantheon russischer Herrscher lange vor.

Für den Nachwuchs steht unterdessen ebenfalls fest: Lenin lieferte die Theorie, Stalin setzte sie um. An der uralten Standardformel wird nicht gerüttelt. Alles bleibt, wie es war. Auch Leo Trotzki erfährt keine Gnade. Der Gründer der Roten Armee hätte beim Aufbau des Militärs zwar gute Arbeit geleistet. „Für uns Moskauer Komsomolzen bleibt er aber ein Volksfeind“, sagt der Chefkomsomolze. Warum? Trotzkis anhaltende Kritik an Stalin scheint der Grund dafür zu sein.

Die alten Revolutionäre hätten der Entwicklung des Landes geschadet, „weil sie innerhalb der KPdSU eine Opposition gründeten. Dafür mussten sie büßen“, so die einhellige Meinung. „Urteile der Volksgerichte werden nicht gänzlich unbegründet gewesen sein“, sagt Andranik. Die Absurdität der inszenierten Anklagen setzte in Russland Logik nicht nur außer Kraft, sie vernichtete deren Grundlagen. Das ist bis heute zu spüren. Die traumatischen Verdrängungen suchen nun schon die vierte Generation heim.