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Siemens-Werke vor dem Aus – trotz voller Auftragsbücher

Sind die Schließungspläne in Sachsen eher politisch als wirtschaftlich motiviert?

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© dpa

Von Sven Heitkamp und Michael Rothe

Das Wunder ist ausgeblieben, der Super-GAU eingetreten – der größte anzunehmende Unfall für Görlitz, die Lausitz, für Sachsen. Der Technologiekonzern Siemens will sein Turbinenwerk in Görlitz mit 950 Mitarbeitern 2023 schließen. Das Werk in Leipzig mit 250 Beschäftigten wird sogar noch drei Jahre früher dichtgemacht.

Umsonst die Mahn- und Feuerwachen in den vergangenen Wochen. Der Bittbrief von Görlitz’ Oberbürgermeister Siegfried Deinege, Ex-General-Manager des gleichfalls bedrohten Bombardier-Werks, an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Die Demos Tausender Siemenswerker und Sympathisanten gegen die Sparpläne. Die bundesweite Solidaritätswelle mit der Unterschriftenaktion von 16 000 Menschen in Görlitz, Erfurt und Berlin. Die vielen Proteste von Bundes- und Landespolitikern.

„Das Turbinenwerk Görlitz ist die Zentrale des Dampfturbinengeschäfts der Siemens AG“, heißt es auf der Website des Unternehmensverbands Sachsenmetall. Görlitzer Turbinen im Leistungsbereich von 45 Kilowatt bis 1 900 Megawatt und entsprechende Dampfturbosätze würden als Generatorantriebe zur Stromerzeugung, Motoren für Verdichter, Gebläse und Pumpen eingesetzt. Sie kämen auch in der Öl-, Gas-, Papier-, Zellstoff-, Lebensmittel-, Metall- und Chemieindustrie zum Einsatz sowie bei erneuerbaren Energien. Daher argumentieren die Lausitzer, dass sie – anders als Adressen in Berlin und Mühlheim – gar keine großen Gas- und Dampfturbinen herstellen, deren Geschäft schwindet. Ihre Auftragsbücher mit kleinen und hocheffektiven Aggregaten seien voll.

Auch in Leipzig-Plagwitz hält man die Begründung zur Schließung für vorgeschoben. Dass die 220 Festangestellten und 50 Azubis, Zeitarbeiter und Werksstudenten zum Kraftwerksgeschäft zählen sollen, in dem es nun harte Einschnitte gibt, hätten sie erst jetzt erfahren, sagt Betriebsrat Stefan Schulze. Die Auftragsbücher seien bis Ende nächsten Jahres voll: mit Einwellen- und Getriebeverdichtern, die in Chemieindustrie, Stahlerzeugung und in Raffinerien zur Öl-Verarbeitung. Von 162 Projekten der vergangenen sieben Jahre seien nur fünf für Kraftwerke gewesen. Der ehemalige VEB Pumpen- und Gebläsewerk, seit 2006 bei Siemens, sei heute ein erfolgreicher Anlagenbauer und werde zu Unrecht auf ein Problem der Kraftwerkssparte reduziert, so der 35-jährige Betriebsrat. Er mutmaßt „eine politische Entscheidung“.

Beobachter beklagen eine fehlende Lobby für Görlitz und Leipzig. Und im Zweifel springe der Osten über die Klinge – und sei es wegen der aufgrund niedrigerer Löhne deutlich niedrigeren Abfindungen.

Sachsens designierter Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) spricht von „unglaublicher Enttäuschung und etwas, das wir in keiner Weise hinnehmen“. Jedes mittelständische Unternehmen, das mit seinem Produkt am Markt nicht mehr erfolgreich sei, würde kämpfen, sich mit Innovationen zu behaupten. Seit 1990 habe Siemens in seiner Heimatstadt schon viel schwierigere Zeiten gemeistert, so der gebürtige Görlitzer. Sachsen werde sich der Schließung entgegenstellen.

Über dem Firmenporträt des Görlitzer Turbinenwerks auf der Internetseite von Gesamtmetall steht in großen Lettern: „M+E Sachsen – hier beginnt die Zukunft“. Für den Siemens-Standort geht sie zu Ende.