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Schöner Wohnen in Piependorf

Ein Unternehmer ließ in Pirna eine mustergültige Siedlung anlegen – vor 100 Jahren, in Zeiten größter Not.

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© Daniel Schäfer

Von Rainer Rippich

Pirna. Die Arbeiterwohnsiedlung, die sich im westlichen Randgebiet Pirnas entlang der Großsedlitzer und Heidenauer Straße erstreckt und bis in die Höhen des ehemaligen Großsedlitzer Kammergutes ansteigt, ist unter vielen Namen bekannt. Genannt seien nur Küttner-Kolonie, Koloniewohnhäuser, Werkssiedlung Küttner, Kunstseidensiedlung und das im Volksmund gebräuchliche „Piependorf“, welches nach der Pfeife der Glasmacher seinen Namen erhielt. Letzterer Name fällt etwas aus dem Rahmen und passt so überhaupt nicht zur eigentlichen Gründungsphilosophie des Kunstseidenfabrikanten Hugo Küttner.

Historischer Blick vom Großsedlitzer Berg auf die Arbeitersiedlung und das Kunstseidenwerk.
Historischer Blick vom Großsedlitzer Berg auf die Arbeitersiedlung und das Kunstseidenwerk. © Repro: R. Rippich
Der Bebauungsplan vom 18. Juli 1918. Der erste Bauabschnitt umfasste die 28 grün schraffierten Wohnhäuser.
Der Bebauungsplan vom 18. Juli 1918. Der erste Bauabschnitt umfasste die 28 grün schraffierten Wohnhäuser. © Repro: R. Rippich
Eine Änderung gegenüber dem Masterplan von 1918 erfolgte 1920, als die mit der Nummer 1,2,3 und 4 vorgesehene Wohnhausgruppe an der Großsedlitzer Straße in ein Sechs-Familienwohnhaus umgewandelt wurde.
Eine Änderung gegenüber dem Masterplan von 1918 erfolgte 1920, als die mit der Nummer 1,2,3 und 4 vorgesehene Wohnhausgruppe an der Großsedlitzer Straße in ein Sechs-Familienwohnhaus umgewandelt wurde. © Repro: R. Rippich

Er erwarb anerkannte Verdienste durch die Errichtung und den kontinuierlichen Ausbau seiner Arbeitersiedlung und verringerte dadurch den herrschenden Wohnraumnotstand in Pirna. Seine Bauaktivitäten zur Schaffung von günstigem Wohnraum für seine Arbeiter und Angestellten waren nicht ganz uneigennützig. So war er letztendlich auch noch ein sehr vermögender Besitzer von städtischen Immobilien. Ein Novum in der Entstehungsgeschichte der Arbeitersiedlung ist nicht nur die lange Bauzeit von über 30 Jahren, sondern auch die Wahl des Bauherrn. Es ist der erste Wohnkomplex in Pirna, der nicht durch staatliche, städtische oder genossenschaftliche Hand entstand, sondern durch die Privatinitiative eines Unternehmers.

Kuriose Baupraktiken

Hugo Küttner ließ bereits in den Jahren 1910/11 auf seiner Parzelle 163a zwei Wohnhausgruppen für je zehn Familien errichten. Es waren sehr kleine Arbeiterwohnungen. Küttner zog, nachdem die erste Wohnhausgruppe belegt war, seine Lehren und argumentierte, da die Mieter beim Einzug keine Möbel besaßen, könnte man die folgenden Wohnungen noch etwas kleiner bauen. Diese Ansicht teilte unter anderem der Amtsarzt nicht, und so kam es zu Konflikten, die mit der Hauptamtsmannschaft in Dresden verhandelt wurden. Diese Behörde stellte bei einer Baukontrolle vor Ort auch noch fest, dass die gesamte Wohnhaussiedlung bereits ohne eine genehmigte Bauerlaubnis fertig war.

Pirnas Stadtrat nahm die Kritik aus Dresden zur Kenntnis und stellte nachträglich einen Bauerlaubnisschein aus. Bauherrn Küttner und seiner bauausführenden Firma Fürchtegott Kemnitzer gelang der Geniestreich, ohne Bauerlaubnis zehn Wohnhäuser zu errichten und ohne Strafe davonzukommen.

Zu diesem Zeitpunkt war an eine geschlossene Siedlungsbebauung noch nicht zu denken. Es lagen weder Bebauungspläne vor, noch war Küttner im Besitz des erforderlichen Baulandes. In langwierigen Verhandlungen bemühte er sich um den Kauf der Großsedlitzer Parzellen 155e, 155p und 158.

Masterplan zur Arbeitersiedlung

Es vergingen noch einige Jahre, ehe Fabrikbesitzer Küttner am 11. Juli 1918 einen Bauantrag an den Pirnaer Stadtrat zur Errichtung von insgesamt 70 Kleinstwohnhäusern stellte. Diesmal sollten sowohl Doppelhäuser als auch bewährte Wohnhausgruppen an der Großsedlitzer und der Straße 3 (der heutige Heidenauer Straße) entstehen. Ungewöhnlich dabei ist schon das Datum des Bauantrages kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges. Die Zivilbevölkerung litt Not und musste katastrophale Einschränkungen ihres Alltags bewältigen.

Küttner begründete den Bauantrag damit, dass durch den in Pirna herrschenden Wohnungsnotstand die für kriegswirtschaftliche Zwecke dringend benötigten Arbeiter nirgends unterkommen konnten. Nachdem die Kriegsamtsstelle des Königlich-Sächsischen Kriegsministeriums eine Ausnahmegenehmigung zum Bau von 28 Einzelhäusern erteilte, stimmte der Stadtrat der militärbehördlichen Genehmigung zu. Die weiteren 42 Häuser sollten nach Erwerb des erforderlichen Flurstückes 158 gebaut werden. Da die Dresdener Kriegsamtsstelle außerdem das Baumaterial aus den knappen zur Verfügung stehenden Bauressourcen zur Verfügung stellte, konnte mit dem Siedlungsbau begonnen werden. Den Masterplan für die Siedlung erarbeitete der Dresdner Gartenarchitekt Otto Alfred Zergiebel.

Eine Freifläche von 1 875 Quadratmetern, die als Spielplatz vorgesehen war, sollte das grüne Zentrum der Arbeitersiedlung bilden. Vor jedem Haus waren ein kleiner Vorgarten und 100 Quadratmeter Garten land vorgesehen. Wenn auch nicht vergleichbar mit der Dresdner Gartenstadt Hellerau oder der Gartenstadt von Marga bei Brieske, so hatte diese Arbeiterwohnsiedlung doch den Charakter einer Gartenwohnsiedlung in kleinem Ausmaß.

Mit dem Bau von 28 Wohnhausgruppen in den Jahren 1918/19 entstand die Küttner-Siedlung, die sich in Zeitetappen über Jahrzehnte kontinuierlich weiterentwickelte. An der Großsedlitzer Straße und an der Straße 3, der heutigen Heidenauer Straße, errichtete die hiesige Baufirma Richard Ritscher drei Wohnhausgruppen und sechs Doppelhäuser. Die Wohnhausgruppe an der Großsedlitzer Straße bestand aus acht Wohnhäusern. Die Wohnhausgruppen an der Straße 3 bestanden aus sechs bzw. zwei Wohnhäusern. Die beiden letztgenannten wurden 1921 mit sechs weiteren Wohnhäusern fortgesetzt.

Anfang des Jahres 1919 hatte Hugo Küttner das Areal der Parzelle 158 vom Kammergut Großsedlitz käuflich erworben. Außerdem verpflichtete er sich, die innerhalb der Siedlung gelegenen Straßen, Wege und Plätze selbst herzustellen und zu pflegen. Zur Erfüllung etwaiger Anliegerleistungen stand er mit dem Stadtrat in Verbindung. Mit diesen Verpflichtungen waren die Grundlagen für die nächsten Erweiterungen gelegt. Im Juli 1919 erfolgte nach Revision und Schlussbesichtigung die Ingebrauchnahme der obigen 28 genehmigten Häuser.

Sämtliche Mieter hatten noch nicht ihr Wohnhaus bezogen, da meldete die Firma Küttner zwei weitere Neubauten an. Diesmal aber waren es keine reinen Wohnhäuser, sondern Gebäude mit einer Bäckerei und einem Kaufladen, also Einrichtungen zur Versorgung des täglichen Bedarfs. Warum man diese Einrichtungen nicht gleich geplant hatte, konnte nicht ermittelt werden. Diese beiden Neubauten setzte man zwischen zwei bereits bestehende Doppelhäuser. Der erste Mieter in der Bäckerei war Bäckermeister Johannes Kalb. Max Schulze führte als erster Kaufmann den Produktenladen. Als Alternative zu einer fehlenden Gaststätte nutzten die Männer die nahegelegene Gaststätte „Pechhütte“.

Die Siedlung wächst

Im Lauf des Jahres 1921 stellte Bauherr Küttner mit fünf Bauanträgen einen Erweiterungsrekord für seine Siedlung auf. Bei allen Anträgen nannte er zwei Gründe, die ihn zum erneuten Bau von Kleinstwohnhäuser anregten. Als Erstes strebte er eine Minderung der in Pirna herrschenden Wohnungsnot an. Diese Botschaft erfreute den Stadtrat, da Pirna nach dem Ende des Ersten Weltkrieges vom Sächsischen Innenministerium zur Wohnnotstandsgemeinde erklärt wurde. Außerdem konnte er die bisherigen Bauleute weiterbeschäftigen, die ansonsten in die Arbeitslosigkeit gefallen wären. Für die gesamte Bauausführung von 32 Kleinwohnhäusern war erneut das Baugeschäft F. Kemnitzer & Co. verantwortlich.

Alle Wohnhausgruppen erhielten im aktuellen Bauplan Bezeichnungen mit Großbuchstaben von „A“ bis „F“. Die Wohnhausgruppen entstanden entweder neu oder wurden an bestehende Häusergruppen angebaut. Mit den Neubauten allerdings wurde der Masterplan von 1918 endgültig ad acta gelegt. Dadurch fielen die unterhalb des Kammergutes Großsedlitz geplanten Wohnhäuser weg – und ein Spielplatz entstand nie.

Mit Bauantrag vom 2. Juli 1921 entstanden zwei Wohnhausgruppen zu sechs Wohnhäusern in der Gruppe „A“, östlich des geplanten Spielplatzes, und der Gruppe „B“, westlich davon. Im nächsten Bauantrag von 1921 entstand die Wohnhausgruppe „C“ mit sechs Wohnhäusern, als Erweiterung in Richtung Heidenau die Wohnhausgruppe „D“ mit weiteren sechs Wohnhäusern. Den Abschluss dieser Bauphase bildeten das Doppelhaus „E“ und die Wohnhausgruppe „F“ mit sechs Wohnhäusern. Die Vollendung der Küttner-Siedlung wird mit weiteren Neubauten in den Jahren 1940/41 angegeben.

Es lohnt sich, der hundertjährigen Küttner-Siedlung einen Besuch abzustatten. Sie hat sich in den letzten Jahren sehr zu ihrem Vorteil verändert. Schicke Fassaden in bunten Farben leuchten an jeder Ecke der sanierten und modernisierten Häuser. Man entdeckt Überraschendes und Verstecktes hinter engen Wegen. Die Anordnung der unterschiedlichen Haustypen im hügligen Gelände bis hinauf zum Großsedlitzer Hang erinnert an südländische Vorbilder.