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Rettung für Scheune, Mühle und Friedhof

Im polnischen Winsko geht eine Bürgermeisterin ungewöhnliche Wege – zur Not auch bis vor Gericht.

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© Irmela Hennig

Von Irmela Hennig

Freitagnachmittag, Saal 14, Regionalgericht im polnischen Wolów (Wohlau). Acht Männer und Frauen füllen die wenigen Plätze im kleinen Verhandlungsraum. Vier von ihnen sind Geschwister. Seit Jahren haben sie sich nicht gesehen. Hatten kaum oder keinen Kontakt. Beim Gang ins Gerichtsgebäude fiel dieser Satz, „die Sache nun endlich“ abzuschließen.

Der Jüdische Friedhof von Wiñsko soll mit Hilfe von Fördermitteln restauriert werden.
Der Jüdische Friedhof von Wiñsko soll mit Hilfe von Fördermitteln restauriert werden. © Irmela Hennig
Die Fördergelder sind sicher auch nötig, wenn die Gemeinde die Scheune einer vor den Nazis geflohenen Familie retten will.
Die Fördergelder sind sicher auch nötig, wenn die Gemeinde die Scheune einer vor den Nazis geflohenen Familie retten will. © Irmela Hennig
Auch eine ehemals deutsche Mühle steht auf der Liste der Gemeinde.
Auch eine ehemals deutsche Mühle steht auf der Liste der Gemeinde. © Irmela Hennig

„Die Sache“ ist eine Erbangelegenheit. Der Vater der vier ist seit zehn Jahren tot. Gestorben in einem Obdachlosenasyl in Deutschland. Zuvor hatte er die kleine Gemeinde Wiñsko (Winzig) nahe Wolów in Polen verlassen, war vor seinen Schulden davongezogen. Die Kinder, sie sind zwischen Mitte 50 und 66 Jahre alt, wussten davon nichts. Nun endlich will das Gericht klären, ob die Nachkommen erben sollen, wollen, dürfen. Oder nicht. Nicht ungewöhnlich, eigentlich. Trotzdem ist „die Sache“ wichtig genug, dass es die Bürgermeisterin von Wiñsko in den Gerichtssaal zieht.

Erbstreit um riesigen Fachwerkbau

Obwohl Jolanta Krysowata an diesem letzten Arbeitstag im April jede Menge anderes zu tun hat. Den ganzen Vormittag hat sie Dokumente unterschrieben, die gerade jetzt noch weitergeleitet werden müssen. Sie hat eine Kindergartengruppe empfangen, die kurz vorm Tag der Verfassung am 3. Mai mit einem Ständchen und weiß-roten Fähnchen ins Rathaus gezogen war. Sie hat mit Medienvertretern über ein Buchprojekt aus ihrer Zeit als Journalistin gesprochen. Hat versucht, für eine zugezogene weißrussische Familie eine Wohnung zu finden. Und sowieso ein Telefonat nach dem anderen geführt.

Jetzt, bei Gericht, bleibt das Telefon stumm. „Die Sache“ ist wichtig. Im ersten Moment ist sie nur eine Scheune an einer der vielen Straßen von Wiñsko, das auf dem flachen Lande westlich von Wroclaw liegt. Deutsche Denkmalschützer würden sie aber wohl sofort mit Siegel und Plakette versehen. Und selbst der Laie erkennt in dem riesigen Bau aus Fachwerk und Backstein etwas Besonderes. Aber Jolanta Krysowata, die parteilos ist, weiß auch noch um die historische Bedeutung. Die Scheune hat einst einer jüdischen Familie gehört. Der von Rita Steinhardt-Botwinick. Die 94-Jährige ist Historikerin mit Doktor- und Professorentitel, zweifache Mutter, mehrfache Großmutter. Mit ihrer Familie gelang ihr einst die Flucht aus Nazideutschland in die USA. In Schriften und Büchern aber kehrte sie zurück. Sie schrieb über den Holocaust.

Und verfasste schließlich mit „Winzig, Germany, 1933-45: The History of a Town under the Third Reich“ („Winzig, Deutschland, 1933-45: Die Geschichte einer Stadt im Dritten Reich“) eine Beschreibung des kleinen Beispiels für das große Ganze. Es geht um die vielen Deutschen in einer gewöhnlichen Kleinstadt, die nach 1933 im Wesentlichen einfach weiterlebten. Deren jüdische Mitbürger in Konzentrationslagern verschwanden, für deren deutsche Einwohner sich bis Kriegsbeginn aber meist nicht viel änderte. Zumindest für viele. Einige wenige profitierten von den Nazis, einige andere hatten zu leiden. Wenige unterstützten Hitler aktiv, eine starke Anti-Nazi-Bewegung entstand aber auch nicht. Erst der Krieg änderte alles, und das dramatisch. Auch darüber hat Rita Steinhardt-Botwinick geschrieben.

Jolanta Krysowata, die hier in der niederschlesischen Provinz aufgewachsen ist, kennt und schätzt die Historikerin Rita Steinhardt. Steht seit zwei Jahren mit ihr in Verbindung. Und sie möchte die Scheune der Familie gern für die Gemeinde übernehmen, daraus ein Begegnungszentrum machen. Den Platz drum herum in Steinhardt-Platz umbenennen lassen. Eine echte Herausforderung. Denn das Gebäude ist so marode, dass es den Sommer vielleicht nicht mehr übersteht. Bereits seit geraumer Zeit stützen mehrere Balken die Rückseite ab, halten sie gerade noch so. „Es muss etwas passieren“, sagt die Bürgermeisterin. Nachdem sie im Dezember 2014 ins Amt gewählt wurde, suchte sie nach den Erben des verstorbenen Wiñskoer Scheunenbesitzers. Sie fand zwei Söhne und eine Tochter in Deutschland, eine weitere in Niederschlesien. Alle hatten keinen Kontakt zum Vater gehabt. Krysowata hat sie zusammengebracht. Will erreichen, dass sie aufs „Erbe“ verzichten. Das bedeute ohnehin nur Schulden. Grundsteuer, die der Vater nicht gezahlt hat. Das Grundstück selbst ist in Wiñsko auch nichts wert. Die Gemeinde ist eine, aus der die Menschen eher weg- als hinziehen.

Jolanta Krysowata kämpft deshalb um Zuwanderer. Zwölf Familien aus Kasachstan hat sie schon aufgenommen. Dazu die weißrussische Familie, die aber noch keine bezahlbare Wohnung für die Dauer gefunden hat. Und an diesem Freitag erfährt die Bürgermeisterin, die hier Wójd heißt, dass demnächst zwei kasachische Köche in die Gemeinde kommen. „Das sind alles gut ausgebildete Leute. Die Kinder sind fleißig in der Schule. Wir brauchen sie hier“, sagt Krysowata. In Wiñsko und den dazugehörenden 20 Dörfern wohnen rund 8 400 Menschen. 300 weniger als vor zehn Jahren. In der polnischen Provinz bekommen junge Paare noch relativ viele Kinder. Trotzdem reicht es nicht. Jolanta Krysowata sind die Zuzügler also willkommen, gerade hat sie für einige Familien ein Haus renoviert. Der frühere deutsche Besitzer hatte sich zuvor lange über dessen Zustand beklagt.

Einwanderer mit Polenkarte

„Repatrianten“ heißen die Neuankommenden hier. Es sind häufig Männer, Frauen und Kinder aus Gebieten, die einst zu Polen gehört hatten. Viele Menschen dort haben bis heute eine sogenannte Polenkarte, die garantiert ein Recht auf Einwanderung ins polnische Heimatland. Nicht nur wegen dieser Zuwanderer wäre ein Begegnungszentrum in der Scheune passend. Sondern auch, weil es noch immer einen jüdischen Friedhof in Wiñsko gibt. Etwas verwildert zwar. Doch die Einheimischen kommen und zünden hier Kerzen an. Vom früheren evangelisch-deutschen Friedhof stehen noch Umfassung und Kapelle. Jolanta Krysowata möchte beide Ruhestätten gern restaurieren. Noch wurde keiner der gestellten Fördermittelanträge bewilligt. Aber sie bemüht sich weiter. Zwei große, gut erhaltene Backsteinkirchen hat der Ort ansonsten zu bieten. Die eine, eine dreischiffige gotische Hallenkirche, wird nur im Sommer genutzt. Sonst ist sie zu kalt.

In ihrem Entwicklungskonzept für die Gemeinde, die bis 1945 das Stadtrecht besaß, will Jolanta Krysowata den Ort attraktiv machen. Teil des Projektes ist eine Getreidemühle in der Altstadt. Anfang der 1990er war sie noch im Dienst, wurde dann dichtgemacht. Nun soll sie erschlossen werden. Auch, um den Tourismus zu fördern. Denn Arbeitsplätze sind hier nicht üppig gesät. Die Menschen sind in der Landwirtschaft beschäftigt, meist kleine Betriebe. Sie haben Jobs im öffentlichen Dienst, oder sie fahren nach Breslau, Legnica, Deutschland. Industrie gibt es wenig.

Barackenabriss für Hotelneubau

Jolanta Krysowata, dreifache Mutter, preisgekrönte Journalistin, die viele Jahre in Wroclaw und Warschau gearbeitet hat, ist bewusst zurückgekommen. Will versuchen, „etwas aufzubauen in dieser Gemeinde, die in einem schlechten Zustand ist“, wie sie erzählt. Manchmal muss sie dafür abreißen. Zum Beispiel eine Einkaufsbaracke, die den historischen Markt verunziert hat. Einst stand an jener Stelle das Hotel Schwarzer Adler. Das Gebäude soll im alten Stil wiederentstehen. Das ist die Bedingung, unter der die Gemeinde das Grundstück verkauft. Nicht jedem gefällt das Engagement Krysowatas für Flüchtlinge und deutsche Hinterlassenschaften. Es gibt Einwohner, die ihre Abwahl wollen.

Nun aber – die Scheune. Es ist gegen drei Uhr am Nachmittag im Gerichtssaal. Die Richterin stellt fest, dass es wohl noch eine Erbberechtigte gibt. Eine weitere Schwester. In Bonn soll sie leben. Auf Briefe habe sie bislang nicht reagiert. Doch sie muss sich äußern, sagt die Richterin und vertagt auf Mitte Juni. Jolanta Krysowata stützt kurz seufzend den Kopf in die Hände. Aber wenige Minuten später, vorm Verhandlungszimmer, ist sie wieder ganz die Kämpferin. Sie wird das hinkriegen.