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Reiter rettet sich in letzter Sekunde

Die Kleingärtner stehen vor dem Aus. Bis ein junger Mann die Initiative ergreift – obwohl er erst eine Woche im Verein ist.

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© Sebastian Schultz

Von Kevin Schwarzbach

Riesa. Einen derartigen Andrang hat der Riesaer Kleingartenverein „Reiter“ bei seinen Mitgliederversammlungen noch nicht erlebt. Bereits eine Stunde vor Beginn der Veranstaltungen trudeln am vergangenen Sonnabendvormittag die ersten Mitglieder ein, kurz vor 10 Uhr gibt es kein Durchkommen mehr. Dutzende drängen sich vor dem Sachsenhof, im Aufgang zum Saal warten weitere 150 Kleingärtner. Gegen 10.45 Uhr kann es dann endlich losgehen. 628 Mitglieder zählt der Reiter laut Versammlungsleiterin Beate Eichner, 322 sind an diesem Sonnabendvormittag gekommen, um einen neuen Vorstand zu wählen. Da jedoch entgegen der sonstigen Handhabung bei Mitgliederversammlungen auch Ehepartner anwesend sein dürfen, tummeln sich im Saal des Sachsenhofs gut 500 Menschen. Wer keinen freien Stuhl mehr findet, muss stehen.

Beate Eichner eröffnet die Veranstaltung mit der Erinnerung, dass nur ein neuer Vorstand den Verein vor dem Aus retten kann. Dann fragt sie ein erstes Mal in die Runde, wer für den Vorstand kandidieren wolle. Großes Köpfeschwenken, viel Geflüster. Dann tritt Alexandra Galka mit erhobener Hand in die Mitte des Saals. „Ich will“, ruft die 35-Jährige und schreitet zum Pult. Der Anfangsapplaus versandet in Gemurmel, als Galka erzählt, wie sie sich die Zukunft des Reiters vorstellt. Familienfreundlicher, kommunikativer, lebendiger. Vor allem bei ihren Plänen zur Verkleinerung des Reiters gibt es Kopfschütteln und Zwischenrufe. Doch am Ende ihrer Rede reagiert ein Großteil des Publikums wohlwollend – „immerhin eine Kandidatin“, sagt ein älterer Herr.

Ein wenig später kippt die Stimmung. Zwar findet sich ein weiterer Kandidat, doch zu einem vollständigen Vorstand fehlen noch immer drei Bewerber. Plötzlich geht es nicht mehr um die Wahl eines neuen Vorstandes, sondern um die Verfehlungen des alten. Ein älterer Herr mit Kappe beschwert sich, dass der alte Vorstand eigenmächtig gehandelt und den Pächtern Informationen verschwiegen habe. „Was ihr abzieht, so geht das nicht.“ Es folgen weitere kritische Kommentare. – Da platzt es aus einer älteren Dame heraus: „Ich finde es beschämend. Wir sind hier, um einen neuen Vorstand zu finden, doch die meisten Mitglieder können immer nur meckern.“ Am Ende ihres Wutausbruchs klatscht ein Gros der anwesenden Mitglieder. Bei so viel Zustimmung scheint es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich ein kompletter Vorstand findet. Doch bei der nächsten Nachfrage nach weiteren Kandidaten bleiben erneut alle Hände unten, stattdessen schwenken die Köpfe umher und durchsuchen den Raum nach anderen Freiwilligen. Geflüster, Gemurmel. Stille.

Dann tritt Torsten Tietze ans Mikrofon. „Ich bin im Reiter aufgewachsen, meine Eltern haben dort seit Jahrzehnten ihren Garten.“ Tietze ist sichtlich aufgeregt. „Ich habe meinen Garten erst seit dem 10. März 2017. Meine Partnerin und ich haben ihn auch für unseren zweijährigen Sohn erworben. Ich weiß, wie schön es im Reiter ist. Ich will, dass es weitergeht.“

Aufbruch statt Untergang

Nach dem leidenschaftlichen Plädoyer des 31-Jährigen verändert sich die Stimmung im Saal, von Untergang nichts mehr zu spüren, der Aufbruch beginnt. Schnell finden sich eine Schriftführerin und ein Vorstandsmitglied für Bauangelegenheiten. Beide werden mit deutlicher Mehrheit in ihr Amt gewählt. Torsten Tietze wird Vorstandsvorsitzender, 193 Mitglieder stimmen für ihn. Alexandra Galka wird Schatzmeisterin. Besonders ihre Wahl hat einen Beigeschmack, drei Mitglieder des alten Vorstandes stimmen gegen sie. Einen fünften Vorstand braucht es dann doch nicht – die Mitglieder entscheiden, fortan eine Fremdfirma für die Elektrik zu nutzen.

Da reißt es den alten Herren mit der Kappe noch einmal von seinem Stuhl: „Ich hoffe, dass der neue Vorstand nicht in das Muster des alten verfällt. Wir haben genug von Herrn Wehlte.“ Torsten Tietze ist sofort bemüht, in ersten Gesprächen mit den Kleingärtnern eine sachliche Arbeitsgrundlage zu schaffen. „Offenbar gibt es einige Altlasten, die wir beseitigen müssen. Wir werden uns alle zusammensetzen und gemeinsam über unsere Zukunft sprechen“, meint der 31-Jährige. „Doch jetzt muss ich dieses Erlebnis erst einmal sacken lassen.“