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Reicker Schornstein verschwindet

Zwei Männer steuern den Bagger, der den Steinriesen „abknabbert“. Allerdings nur, wenn das Wetter passt.

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© René Meinig

Von Nora Domschke

Dresdern. Es ist wohl derzeit der zugigste Arbeitsplatz der Landeshauptstadt. In 200 Metern Höhe werden zwei Abrissprofis in den kommenden Wochen den Reicker Schornstein mithilfe spezieller Technik Stück für Stück abtragen. An diesem Dienstag wird dieser sogenannte Spinnenbagger im Inneren des Turmes nach oben gezogen. Von einer Plattform aus steuert einer der Männer den Metallhammer, der nach und nach gut einen Quadratmeter große Platten herausbricht. Die Stahlbewehrung, die der Betonwand in den vergangenen 40 Jahren Halt gab, wird mit zerschnitten. Stahl und Beton fallen im Inneren des Schlotes nach unten und werden dort entsorgt.

Drewag-Projektleiter Hans-Joachim Ettrich begutachtet den Spinnenbagger
Drewag-Projektleiter Hans-Joachim Ettrich begutachtet den Spinnenbagger © René Meinig

Bis Ende dieses Jahres wird von dem Schornsteinriesen nichts mehr zu sehen sein. Seit zwei Jahren beschäftigt sich Drewag-Projektleiter Hans-Joachim Ettrich mit den Vorbereitungen des Abrisses. Derzeit ist das XXL-Bauwerk das zweithöchste in Dresden. Nur der Fernsehturm überragt ihn mit seiner Größe von 252 Metern. Das Restaurant liegt allerdings „nur“ 145 Meter hoch. Ettrich fuhr mit dem Aufzug, der an der Außenwand des Schornsteins montiert ist, bis zur Spitze in luftigen 200 Meter Höhe. Eine Fahrt dauert übrigens ganze 15 Minuten. „Die ersten 50 Meter habe ich mich gezwungen, nicht nach unten zu schauen“, berichtet er. Dann genoss er einfach nur den Ausblick über die Stadt und das Elbtal. Ein wenig mulmig sei ihm auf der Plattform oben dann aber doch gewesen, sagt Ettrich schmunzelnd.

Luftschutzbunker im Schlot

Ursprünglich sollte der Abriss schon vor zwei Wochen beginnen. Doch die heftigen Herbststürme durchkreuzten die Pläne der Drewag. „Bei Windgeschwindigkeiten, die höher als 50 Stundenkilometer sind, darf niemand auf der Plattform arbeiten“, erklärt der Projektleiter. Nun ist das Wetter optimal, um mit den Arbeiten zu starten.

Einige Dresdner hatten bereits in den letzten Tagen vermutet, dass der Abriss schon in vollem Gange ist. Immer wieder riefen Leser bei der SZ an, wollten wissen, was am Reicker Riesen geschieht. „Auch wir haben viele Anfragen bekommen“, sagt Drewag-Sprecherin Gerlind Ostmann. Geduldig erklärt sie, dass bislang nur die Innenverkleidung des Schornsteins und damit rund 1 000 Tonnen Ziegel entfernt wurden. Was bislang kaum ein Dresdner wusste: Im unteren Teil des Turmes befand sich ein Luftschutzbunker; die Abgase wurden oberhalb dieser Räume in den Schlot eingeleitet. „Bis in die Höhe von 25 Metern waren zwei Etagen eingebaut. Da hingen bis jetzt noch Klappliegen und Gasmasken an der Wand“, erklärt Ettrich.

Die Meinungen über den Abriss gehen unter den Dresdnern durchaus auseinander. Während sich die einen freuen, dass das Ungetüm aus dem Stadtbild verschwindet, bedauern andere das Verschwinden des Industriewahrzeichens. Mehr als vier Jahrzehnte prägt der Schornstein das Bild von Reick, viele Anwohner arbeiteten bei den Stadtwerken. „Für sie gehört er einfach mit zu Dresden“, sagt Gerlind Ostmann.

Das Unternehmen hatte sich dennoch für den Abriss entschieden, denn die Instandhaltung des Bauwerkes hätte mehrere Hunderttausend Euro gekostet. Letztlich wurde die Größe dem Reicker Riesen zum Verhängnis – er ist nämlich völlig überdimensioniert für ein Heizkraftwerk, das nur bei wirklich frostigen Temperaturen genutzt wird. Die Hauptversorgung übernimmt das Heizkraftwerk an der Nossener Brücke. So muss etwa ein Gutachter alle zwei Jahre prüfen, wo sich Risse gebildet haben. „Um den Schornstein für die nächsten 20 Jahre sicher zu machen, wäre eine umfangreiche Sanierung nötig gewesen“, sagt Ettrich. Geld, das die Stadtwerke lieber an andere Stelle sinnvoller investieren wollen. Den Dienst des steinernen Kolosses haben inzwischen zwei kleinere Stahltürme übernommen, die Anfang dieses Jahres direkt neben dem steinernen Exemplar errichtet wurden. Die Drewag investiert insgesamt drei Millionen Euro in den Neubau der beiden Türme und den Abriss ihres Vorgängers.

Damit dieser reibungslos verläuft, hofft Ettrich in den nächsten Wochen auf gutes Wetter. Und vor allem auf Windstille. Dann können die Experten einer Spezialfirma aus Süddeutschland ohne Probleme auf ihre Plattform fahren. Immerhin müssen noch rund 4 000 Tonnen Stahlbeton beseitigt werden. Mit Dresdner Schornsteinen kennt sich die Firma übrigens gut aus: Bereits 1997 wurde sie von der Drewag beauftragt, den Schornstein an der Nossener Brücke abzureißen. Damals ging das allerdings noch nicht per Fernsteuerung – ein Mann musste direkt in dem Spinnenbagger sitzen und ihn lenken.