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Oh, wie schön ist Jamaika

In Deutschland reden sie jeden Tag über Jamaika. Auf der Karibikinsel sickert aber erst langsam durch, dass man Namenspatron eines Koalitionsexperiments in Berlin werden könnte.

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© dpa

Von Georg Ismar

Er nennt sich König. Kyng Sharlo führt auf der Speisekarte in seinem „Rastarant“ Hasch-Kekse und Marihuana-Tee, auf dem Tisch stehen Wasserpfeifen. Er hat 1,50 Meter lange Dreadlocks und trägt eine schwarze Sonnenbrille. Aus den Boxen dröhnt Reggae. Willkommen in Jamaika. Im echten Jamaika – rund 8 500 Kilometer entfernt von der Suche nach einem Regierungsbündnis für Deutschland, das nach der Karibikinsel benannt wird.

Kyng Sharlo schaut ratlos drein. „Jamaica-Coalition?“ Er schüttelt den Kopf. „Nee, noch nie gehört.“ Als er erfährt, dass im fernen Berlin der Name seines Landes Jamaika gekapert wird wegen der farblichen Parallele der vielleicht zur Koalition verschmelzenden Parteien CDU/CSU (schwarz), FDP (gelb) und der Grünen (grün), ist er erstaunt über diese Deutschen. Er rasselt erst mal mit seiner Rassel.

In Deutschland wird dieser Tage viel über Jamaika geredet. Wenn es keine Begrenzung auf 200 000 Flüchtlinge im Jahr gebe, „bleibt Jamaika eine Insel in der Karibik und wird keine Koalition in Berlin“, sagte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Nun, nicht nur aus der Distanz und mit einem Ozean dazwischen lässt sich sagen: Auch ohne Koalition dürfte Jamaika eine Insel in der Karibik bleiben. Doch was bewegt die Menschen hier, welche deutschen Spuren gibt es?

Kyng Sharlo erinnert sich an die Begegnungen mit deutschen Rastafari – und vielleicht helfe die Koalition ja, mehr Touristen an den für seine Klippen und Strände berühmten Küstenort Negril zu bringen. Dann malt er in das Notizbuch des Reporters ein Herz mit einem „R“ für Rastafari, dazu Sonnenstrahlen und schreibt: „Universal Love“. Statt weiter über die Jamaika-Koalition zu grübeln, philosophiert der Musiker lieber über Probleme, eine geeignete Frau zu finden. „Warum die meisten Frauen in Jamaika keinen Rastafari daten wollen? Sie sind halt sehr amerikanisch und materialistisch orientiert.“ Rastafari sei dagegen eine Religion, Geld und Besitz seien unwichtig, man wolle im Einklang mit der Natur und Musik leben, sehr spirituell. Leider zerstöre der Einzug des Kapitalismus traditionelle Strukturen. Nur noch fünf Prozent seien echte Rastafari in Jamaika.

Jamaika, das steht oft für Klischees, mehr Afrika als Lateinamerika, über 90 Prozent der Bevölkerung sind Nachfahren von Sklaven. Knapp drei Millionen Menschen leben hier. Jamaika steht für Reggae und Lebensfreude, aber auch für Armut und Kriminalität. Das Land hat schon bessere Zeiten erlebt. Wirtschaftlich gibt es kaum Wachstum, und während Deutschland für viele Menschen Zufluchtsland ist, träumen gerade junge Jamaikaner von einer Zukunft in den USA.

Claire McPherson sitzt im trüben Neonlicht hinter ihrem Schreibtisch in der Hauptstadt Kingston. Die 82-Jährige leitet das „Jamaican Institute for Political Education“. Früher war es ein wichtiger Think Tanks, gefördert von der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung aus Deutschland. Heute kommen am Tag drei, vier Besucher, erzählt Claire McPherson, die die Führung nach dem Tod ihres Mannes übernommen hat.

Der Ventilator kreist, die Zeit wirkt stehen geblieben. Jamaikas Demokratie gilt zwar als stabil. Aber die Bindungskraft der Parteien gehe verloren, ein aus Deutschland bekanntes Phänomen. „Die Kirchen und Sekten sind viel einflussreicher, auf die hören die Menschen“, klagt McPherson. Und berichtet von Aktivismus abseits der Parteien: „Und wer etwas durchsetzen will, blockiert einfach eine Straße.“

Alte Computer, verstaubte Faxgeräte, in der Ecke steht auf dem Boden neben dem Mülleimer ein Bild vom Mauerfall, das Glas ist gesprungen. Dazu der Spruch: „Open borders, open hearts – The Germans, one nation“ („Offene Grenzen, offene Herzen – die Deutschen: eine Nation“). McPherson holt Broschüren hervor, von 1996, von der „Konrad Adenauer Memorial Lecture“ in Kingston, in Erinnerung an den Kanzler und den Demokratieaufbau in der Bundesrepublik. Thema der Veranstaltung: „Der Einfluss des Wandels in Europa auf die Karibik“. Es gab damals viel Hilfe beim Aufbau einer stabilen Demokratie und des Justizsystems in Jamaika. „Aber heute gibt es kein Geld mehr“, sagt McPherson.

Angesprochen auf die „Jamaica Coalition“, muss sie schmunzeln. In Jamaika sind Koalitionsregierungen eher unbekannt. Es konzentriert sich, ähnlich wie in den USA und Großbritannien, auf zwei große Parteien. Staatsoberhaupt ist formal die britische Queen Elizabeth II., Jamaika ist aber seit 1962 ein souveräner Staat. 18 Jahre regierte die Volkspartei. Seit 2016 ist die Labour Party dran. An der Spitze steht Premierminister Andrew Holness.

Rund 300 Deutsche leben in Jamaika. Das Auswärtige Amt betont: „Die Beziehungen (…) sind seit Jamaikas Unabhängigkeit 1962 freundlich und problemfrei.“ Die deutsche Botschaft in Kingston liegt, man sollte es nicht als Omen für eine Jamaika-Koalition werten, in der Waterloo Street. Botschafter Joachim Schmillen war früher mal Büroleiter des bisher einzigen grünen Außenministers, Joschka Fischer.

Seit 2010 gab es für den gesamten karibischen Raum Entwicklungsgelder in Höhe von 62 Millionen Euro, etwa für den Schutz der Küsten und die Anpassung an den Klimawandel. Für Unternehmen aus Deutschland könnten gerade die erneuerbaren Energien spannend sein – Stichwort viel Sonne und Wind. Der meiste Strom kommt hier bisher aus einem Ölkraftwerk. In der Realität bauen Kanadier Autobahnen und Chinesen viele Hochhäuser. In einer Radiosendung lobt ein Anrufer den Fleiß der chinesischen Arbeiter, während einheimische zu teuer und faul seien – was ihm einen Wutanfall des Moderators beschert.

Jenseits aller Farbassoziationen existiert in Jamaika aber auch ein Ort, der deutsche Wurzeln hat. Ihn zu erreichen, rund 160 Kilometer von Kingston entfernt, ist eine Herausforderung. Von der Hauptstraße kommend, geht es noch lange durch tropische Wälder, durch Gelände, das an einen Truppenübungsplatz erinnert. Grüner Dschungel, Schlaglöcher, Abgründe. Wie aus dem Nichts steht auf einer Kuppe plötzlich ein Stein: „Welcome to Seaford Town – The German Township, founded 1835“. Ein Mann namens Lord Seaford wollte nach Abschaffung der Sklaverei Arbeitskräfte gewinnen. Mit allerlei Versprechen wurde um Auswanderer geworben. Hunderte verarmte Bürger aus der Weserregion wanderten nach Jamaika aus.

Versprochen waren neue Häuser, doch die standen nicht. Viele Ankömmlinge starben an Malaria und Cholera. Noch heute zeugen überwucherte Ruinen und alte Häuser in dem 350-Seelen-Ort von dieser Migrationsgeschichte. Hunderte Nachfahren wanderten in den 1950er-Jahren nach Kanada aus. Die deutsche Sprache starb in Seaford aus, als eine der wenigen Traditionen blieb das Spanferkelessen am Samstag.

Einer der letzten weißen Nachfahren ist Curtis Hacker. Er wartet am Sonntag auf den Beginn der Messe. Mit 56 Jahren ist der Handwerker Frührentner, wie sein Bruder auch. Beide gehören zur vierten Generation. Was weiß er über die deutschen Vorfahren? „Nichts Richtiges, hat mich nie so interessiert.“ Mit dem Land der Ahnen verbindet er nichts. „Nur mein Cousin war mal in Deutschland. Aber dem hat das Meer da, die North Sea, gar nicht gefallen.“ Curtis Hacker sagt: „Ich bin zu 100 Prozent Jamaikaner.“ Sein Bruder zeigt später das alte Haus des Urgroßvaters am Fluss, im Hintergrund läuft laut Reggae. Es gab auch mal ein kleines Museum zur Einwanderungsgeschichte. Aber wegen Geldmangels machte es dicht. Einige hoffen auf eine „Jamaika-Regierung“ in Berlin oder die deutsche Botschaft in Kingston, dass sie Geld geben, um die Geschichte aufzuarbeiten. Und um deutsche Traditionen wie Wurstmachen und Bierbrauen wiederzubeleben. Dann würden vielleicht Touristen nach Seaford reisen wie in andere deutsche Kolonien in Amerika.

Vernon Davidson ist einer der wenigen in Jamaika, dem die Koalition ein Begriff ist. Er führt als Chefredakteur eine der wichtigsten Zeitungen, den Jamaica Observer. Er ist von einem Leser darauf aufmerksam gemacht worden, was sich im fernen Deutschland zusammenbraut. „Der Leser schickte Artikel aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Bild.“ Am 8. Oktober – zwei Wochen nach der Bundestagswahl – kam so der erste Artikel über eine „Jamaica Coalition in Germany“ in seine Zeitung. Auflage: rund 150 000.

Davidson ist amüsiert, dass Jamaika nun so oft in deutschen Medien auftaucht. Auf die Frage, was Deutschland von Jamaika lernen könne, bricht er in Lachen aus. „Genau das: Wir lachen gern und haben Spaß.“ Und: Es gebe keinen Druck auf die Medien, keine Lügenpressevorwürfe. Weltweit liegt Jamaika auf Platz acht in Sachen Pressefreiheit – klar vor Deutschland.

Chefredakteur Davidson mag Deutschland, vor allem den Fußball. In seinem Büro hat er „FC Bayern München TV“ als Sender programmiert. Und zum Abschied ist ihm eine Botschaft wichtig, unabhängig davon, ob Jamaika zur Koalition in Berlin wird. „Ihr müsst in Russland wieder Fußball-Weltmeister werden.“ (dpa)