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Oberschüler in der Haut eines 70-Jährigen

Rollentausch an der Nieskyer Oberschule und mit dem Rollstuhl durch die Stadt. Studenten sorgen für neue Erfahrungen.

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© André Schulze

Von Steffen Gerhardt

Wie fühlt es sich an, wenn man 70 Jahre alt ist? Moritz hat gleich die passende Antwort darauf: „Das ist krass, wie eingeschränkt man ist!“ Es geht schnell, einen Siebenklässler zu einem Siebzigjährigen zu machen. Das erfahren die beiden 7. Klassen der Oberschule Niesky während einer Projektwoche. In dieser durfte Moritz einen Zeitsprung ins Rentenalter machen. Ermöglicht wurde ihm das durch einen Altersanzug, der ihm angelegt wurde. Bandagen machen die Gelenke steifer, Gewichte machen sie schwerer. Eine schwere Weste krümmt den Rücken, Brille und Kopfhörer stören die Sinnesorgane. Und damit soll man sich im Alltag zurechtfinden?

Dass die Siebentklässler diese Frage dann doch mit Ja beantworten können, ist das Resultat dieser Projektwoche. Eingerührt haben diese vier Studenten der Hochschule Zittau-Görlitz. Eine von ihnen ist Friederike Polster. Sie studiert im vierten Semester Heilpädagogik. Zum Abschluss dieses Semesters müssen die Studenten eine Prüfung ablegen. Grundlage dafür ist ein Projekt, das sie umsetzen und vor der Prüfungskommission auswerten. Dass die vier jungen Leute damit in Niesky an die Türen geklopft haben, kann Jan Kretschmer schnell erklären: Er hatte ein Praktikum in der Heilpädagogische Tagesstätte in Niesky absolviert und dadurch Menschen mit Behinderungen kennengelernt.

Friederike Polster sagt, „damit stand für uns fest, dass wir unser Projekt in Niesky umsetzen“. Dazu holen sie sich Unterstützung vom Diakoniewerk Martinshof Rothenburg, der Heilpädagogischen Kindereinrichtung Niesky und dem Behindertenbeirat des Landkreises. Auf vier Themen konzentrieren sich die Studenten: Diabetes, Epilepsie, Behinderung der Sinne und behinderte Menschen im Allgemeinen. Einbezogen sind die Oberschüler, die nicht nur als Probanden fürs Älterwerden herhalten, sondern für diese Krankheiten und das Älterwerden sensibilisiert werden.

Den Studenten ist wichtig, dass nicht nur sie gegenüber den Schülern zu Wort kommen, sondern auch Betroffene. Einer von ihnen ist Lothar Gothan. Seit 1984 leidet der Nieskyer unter Diabetes Typ 1 und engagiert sich in der Arbeitsgruppe für Menschen mit Behinderung im Kreisbehindertenrat. Sein Anliegen ist es, auch junge Menschen über Diabetes aufzuklären. Da kommt ihm das Projekt der Studenten gerade richtig. Der 64-jährige ist es auch, der den Studenten die Türen zu den Gremien und Einrichtungen öffnete, mit denen sie jetzt zusammenarbeiten.

Ginge es nach Lothar Gothan, müsste dieses Projekt eigentlich Teil des Lehrplanes sein. Dafür macht er sich auch stark. „Jeder Zehnte in Deutschland ist von Diabetes betroffen. Auch die Schüler kennen aus der eigenen Familie oder dem Verwandtenkreis mindestens einen, der davon betroffen ist“, sagt Lothar Gothan. Auch aus diesem Grund lohne es sich, die Kinder auf den Umgang mit dieser Krankheit vorzubereiten. Nur so können sie Betroffene besser verstehen und ihnen helfen, ist der ehemalige Berufsschullehrer überzeugt.

Ein weiterer Aspekt ist das Kennenlernen behinderter Menschen, wo und wie leben sie, was wird für sie getan. Wie schwer es ist, sich als gesunder Mensch im Rollstuhl zu bewegen und dabei in einem Einkaufsmarkt die täglichen Dinge zu besorgen, erfuhren sie bei einem Selbsttest. Ihr Vorteil ist, dass sie nach einer Stunde den Rollstuhl wieder verlassen können. Aber es gibt genug Menschen, die sich zeitlebens auf zwei Rädern fortbewegen. Und dass diese nicht überall in der Stadt barrierefrei rollen können, zeigt der Selbsttest. „Das geht ganz schön in die Arme, wenn man damit den ganzen Tag unterwegs ist“, fasste ein Siebenklässler sein Erlebnis mit dem Rollstuhl zusammen. Seine Mitschüler werden ihm recht geben.

Am Donnerstag sind die Oberschüler zusammen mit den vier Studenten an der Hochschule in Görlitz. Dort werden die künftigen Heilpädagogen ihr Projekt vorstellen und auswerten. Dabei fließen die Erfahrungen der Mädchen und Jungen mit ein. Darunter auch die, wie es ist, wenn man nur mit seiner „schlechten Hand“, bei vielen dürfte das die linke sein, den Alltag meistert. Ausprobieren konnten die Schüler das beim gemeinsamen Frühstück am Mittwoch, wo sie nur einhändig hantieren durften. Zum Glück mussten sie nicht mit dem Altersanzug die Semmeln schmieren, das wäre dann „echt krass“ geworden – oder so, wie sich viele alte Menschen am Morgen fühlen – und damit klarkommen müssen.