Merken

Nackt, gläsern, gut gefülltes Konto

Alltag in Großstädten: Wer eine Wohnung erobern will, muss sich von anderen Anwärtern abheben - und sich oft ausziehen, im übertragenen Sinn. Selbstentblößung statt Datenschutz.

Teilen
Folgen
© Tobias Hase/dpa

Martina Scheffler

München. Ein Herbstabend in München, kurz vor 18 Uhr. Ein Pulk junger Leute steht vor einem schmucklosen Mehrfamilienhaus aus den 70er Jahren. Manche wippen nervös mit dem Fuß, einige gucken skeptisch zu Boden. Alle warten auf eine blonde Frau im roten Blazer. Sie hat etwas Heißbegehrtes zu vergeben: ein Apartment, 28 Quadratmeter, „mit guter Infrastruktur und Balkon“. So steht es im Angebot der Maklerfirma ProEigentum Immobilien GmbH.

Die Wohnungssucher haben sich vorbereitet. Kaum jemand kommt ohne Informationen, die er sonst sogar engen Freunden nicht offenbaren würde: Einkommensbescheide zum Beispiel. Viele Vermieter wollen solche Dokumente schon vor der Besichtigung sehen, auch wenn das den Datenschutzgesetzen widerspricht. Und manche Interessenten geben persönliche Dinge ungefragt preis, einfach, weil sie auf dem angespannten Wohnungsmarkt um jeden Vorteil kämpfen müssen.

„Here’s all the information“ - alles da, so tönt es aus einem Bewerbungsgespräch. Der Anwärter hat eine Mappe dabei, Schufa-Bonitätsauskunft inklusive. Immobilienwirtin Anna Maria Grohmann - die Frau im roten Dress - muss sogar einige Leute bremsen. Manche Informationen weist sie erstmal zurück. Allerdings hat ihr Büro angesichts der Bewerbermassen und der geringen Zahl an freien Wohnungen vorher schon gesiebt: ProEigentum setzt eine Software ein, um eine Vorauswahl zu treffen - damit nicht alle 600 Interessenten durchgeschleust werden, sondern nur um die 60.

So sind an diesem Abend in Berg am Laim jeweils bis zu zehn Anwärter im Viertelstundentakt gekommen, um die Ein-Zimmer-Wohnung anzuschauen. 555 Euro plus Heizkosten verlangt der Vermieter - knapp 20 Euro pro Quadratmeter. Viel Geld, aber kleine Wohnungen sind rar. „Es ist schwierig“, stöhnt Nicholas Johnson. Der junge Kalifornier findet, in den vergangenen zwei Jahren habe sich die Situation noch einmal verschärft. Ein junges Paar aus Italien lächelt tapfer und bestätigt: „Wenig Antworten, viele Leute bei Besichtigungen.“

40 BEWERBUNGEN - 2 EINLADUNGEN

Eine schlanke, dezent geschminkte 19 Jahre alte Münchnerin sucht seit drei Monaten vergeblich. „Viele Rückmeldungen bekomme ich leider nicht.“ 40 Bewerbungen - 2 Einladungen, das ist ihre Ausbeute. Vielleicht ist der Verdienst zu gering? 1100 Euro netto, gibt sie fast verschämt an. „Wenn Sie sich bewerben und diese Summe reinschreiben, dann lädt Sie keiner ein“, rät Anna Maria Grohmann fast mütterlich.

Doch was tun, wenn man bei den meisten Vermietern ohne Gehaltsangabe gar nicht erst einen Fuß in die Tür bekommt? „Da müssen Sie sich komplett ausziehen“ und „Sie müssen sich schon nackig machen“ - viel gehörte Ansagen, nicht zum Arztbesuch, sondern zur Wohnungssuche. Der gläserne Bewerber wird von vielen Vermietern gewünscht: einer, der vor der Besichtigung die Kontoauszüge überreicht. Der beim ersten Kontakt über Ex-Vermieter oder den Arbeitgeber informiert, noch bevor er weiß, ob die Wohnung einen Waschmaschinen-Anschluss hat.

Dabei muss, wer eine Besichtigung wünscht, eigentlich nur Namen und Kontaktdaten angeben, sagen ob Tiere gehalten werden - abgesehen von Kleintieren - und gegebenenfalls, ob ein Wohnberechtigungsschein vorliegt. Fragen nach Vorstrafen, sexueller Orientierung, Schwangerschaften, Kinderwunsch und Heiratsabsichten, Mitgliedschaften in Parteien und Mietervereinen sowie die Frage nach der Beschäftigungsdauer sind grundsätzlich unzulässig.

Auch die pauschale Frage nach Religion und Nationalität ist nicht erlaubt. Die regelmäßig geforderten Einkommensnachweise müssen in der Regel erst vorgelegt werden, wenn der Vermieter sich für einen Bewerber entschieden hat, wie die Landesdatenschutzbeauftragte von Nordrhein-Westfalen es in einer Broschüre festhält. Doch die Realität sieht oft anders aus. Verstöße gegen das Bundesdatenschutzgesetz sind kein Einzelfall.

INFOS ÜBERS EINKOMMEN? NATÜRLICH, HIER SIND SIE!

Eine andere Wohnung, ein anderer Stadtteil, wieder München: eine 2-Zimmer-Wohnung, 60 Quadratmeter für unter 1000 Euro warm, ein Spottpreis für die Stadt. Mehr als 20 Wohnungen habe er in 3 Monaten besichtigt, erzählt ein junger Mann aus der Türkei auf Englisch. Aufenthaltserlaubnis, Empfehlung des Arbeitgebers, Gehaltsabrechnungen und eine Schufa-Bescheinigung - natürlich!

Ist es okay, solche Einblicke zu gewähren? „Überhaupt nicht“, weiß der Anwärter. Doch was soll man tun? Er ist der einzige der hier Befragten, der Kritik zu äußern wagt. Andere meinen, sie hätten keine schlechten Erfahrungen gemacht oder drehen sich bei der ersten Frage weg, noch bevor das Wort Datenschutz fällt. Sie wollen nicht auffallen, halten still, ballen höchstens in der Tasche die Faust.

„Viele Mieter sind so froh, wenn sie eine Wohnung haben, dass sie keinen Ärger wollen. Die Leute wehren sich halt weniger, weil der Wohnungsmarkt so ist, wie er eben ist“, sagt Tina Angerer vom Mieterverein München.

86 MAKLER - UND NUR EINER OHNE BEANSTANDUNG

Dabei sind Verstöße gegen das Bundesdatenschutzgesetz offenkundig. 2015/16 blieb bei einer Überprüfung in Bayern nur einer von 86 Immobilienmaklern unbeanstandet, wie Alexander Filip berichtet, Referatsleiter beim Bayerischen Landesamt für Datenschutzaufsicht, kurz BayLDA. Ausweiskopien seien vor oder bei der Besichtigung verlangt worden. Es seien nicht benötigte Daten gefordert worden, etwa Staatsangehörigkeit, Familienstand, Daten zum Vorvermieter und der Grund des Wohnungswechsels. Man habe die Makler aufgefordert, solche Fragen zu entfernen.

Wenig besser als im Süden der Republik stellt sich die Lage im Westen dar. Im Frühjahr 2017 hatte die Landesbeauftragte für Datenschutz in Nordrhein-Westfalen, Helga Block, Makler und Wohnungsverwaltungsgesellschaften überprüft: Keiner blieb ohne Beanstandung. „Anlass der Prüfung war die steigende Anzahl von Beschwerden der Bürgerinnen und Bürger“, heißt es dazu. Vom Ergebnis zeigt sich Block wenig überrascht. Die krassesten Verstöße: „In einem Mieterfragebogen wurden die Mieter aufgefordert, detaillierte Angaben zu den folgenden Punkten zu machen: Ratenkredite, Versicherungen, Kfz-Ausgaben, Prämiensparen, Unterhalt sowie Sonstiges.“

In vielen Bundesländern wie Bayern, Nordrhein-Westfalen und Hamburg versuchen die Datenschutzbehörden, mit Info-Blättern für mehr Wissen zu sorgen. Sie wollen Mieter und Vermieter aufklären, welche Fragen wann erlaubt sind. Und was überhaupt nicht preisgegeben werden muss. Der Hamburger Datenschützer Johannes Caspar gab 2013 so eine Broschüre heraus: „Klarheit“ habe man damit geschaffen, urteilt sein Amt. „Gleichwohl erreichen uns immer wieder Beschwerden von Hamburgerinnen und Hamburgern, die sich etwa bei einer ersten Wohnungsbewerbung unzulässigen Fragen ausgesetzt sehen.“

FREIWILLIGKEIT IST KAUM GEGEBEN

Weil die Lage in Großstädten besonders krass ist, spitzt sich auch das Datenproblem dort zu. In Hamburg würden Mietinteressenten eher dazu neigen, „persönliche Daten preiszugeben, um nicht schon von vornherein die Chance auf einen Mietvertrag zu vergeben“, heißt es vom Hamburger Datenschützer. Das Resultat sei, dass „Vermieter mit einer Strategie der Vorratsdatenspeicherung“ durchkämen. Also alles die Schuld der Mieter? Jein. „Von einer „freiwilligen“ Datenpreisgabe kann unter derartigen Vorzeichen kaum gesprochen werden.“

Teils aber von einer „Datensammelwut“, so sieht es jedenfalls Ulrich Ropertz, Geschäftsführer des Deutschen Mieterbundes. Dabei spiele die Wohnungsnot in den Zentren den Eigentümern in die Hände. Wer später Zugriff auf die Daten besitze, darüber habe der Interessent keine Kontrolle. Den vorauseilenden Gehorsam von Mietern sieht Ropertz als Teil des Problems. „Die Realität ist: In einer Schlange von 30 Interessenten wedeln 29 mit einer Schufa-Auskunft.“ Nach der dürfte aber erst unmittelbar vor Abschluss des Mietvertrags gefragt werden.

In einem Neubaugebiet im Münchner Stadtteil Neuhausen umringen mehrere Bewerber die Maklerin. „Soll ich Ihnen die Mappe gleich mitgeben?“, fragt ein Mann. Seine Begleiterin ergänzt: „Brauchen Sie unsere Ausweiskopien?“ Das nicht, aber ein Foto der Bewerber für den Vermieter wird gewünscht. „Das ist ganz wichtig, damit er sich ein Bild machen kann“, erläutert die Maklerin.

Dass sich an diesen Verhältnissen etwas ändert, scheint dem Verbandsmanager Ropertz wenig wahrscheinlich: „Wenn sich 50 Millionen Mieter in Deutschland einig sind, dass sie diese Unterlagen nicht angeben...“ Dann, ja dann, würde etwas kippen. Aber: „Einer will schöner sein als der andere.“

BEI VERSTÖßEN: VOR GERICHT ODER ZUR DATENSCHUTZBEHÖRDE

Wer sich trotz aller Zwänge wehren möchte, kann den zivilrechtlichen Weg gehen und vor Gericht um Schadenersatz kämpfen. Oder er wendet sich an seine Datenschutzbehörde, die die Sache dann prüft. Wird ein Rechtsverstoß festgestellt, kann das Amt eine Geldbuße verhängen, sofern auch der Tatbestand einer Ordnungswidrigkeit erfüllt ist - es also um eine vorsätzliche, rechtswidrige Handlung geht. Auch dann treffen die Behörden aber eine Einzelfallentscheidung. Und die ist abhängig etwa davon, ob der Verstoß der erste ist oder in einer langen Reihe steht. Legen Mieter Widerspruch ein, geht der Fall vors Amtsgericht.

Das Bayerische Datenschutzamt hat noch keine Geldbußen in solchen Fällen verhängt. Möglich wären Bußgelder bis zu einer Höhe von 300 000 Euro. In Hamburg gingen 2017 bis Mitte Oktober zehn Beschwerden ein. Bußgelder wurden auch hier noch nicht verhängt. Man sehe wohl nur die Spitze des Eisbergs, hieß es.

Auch auf der Seite der Vermieter weiß man um die Konflikte. „Das Problem ist uns bekannt, dass das schwierig ist“, sagt Julia Wagner, Rechtsreferentin bei Haus und Grund Deutschland. „Man sollte als Vermieter darauf achten, dass man nur anfragt, was relevant ist.“ Dennoch gibt sie zu bedenken: „Eine Personalausweiskopie ist wichtig, sollte der Mieter sich später als Betrüger herausstellen.“ Haus und Grund weise darauf hin, dass Bewerbungsunterlagen vernichtet werden müssten.

ES GEHT AUCH ANDERS: BABY-BONUS UND LEERSTÄNDE

Dass es auch anders geht mit dem Datensammeln zeigt sich etwa in Pirmasens. Im Gebiet des Mietervereins Westpfalz verzeichne man viel Leerstand, sagt der Vorsitzende Martin Zepp-Linse. Wohnungsnot gebe es nicht, dafür viele Empfänger von Sozialleistungen. Selbstauskünfte seien eher die Ausnahme. Geradezu umgekehrt wie in München ist das Mieter-Vermieter-Verhältnis auch in Freiberg in Sachsen: Hier wirbt die Städtische Wohnungsgesellschaft mit einem „Baby-Bonus“ um den Verbleib bisheriger und den Gewinn neuer Mieter. „Das wird gut angenommen“, freut sich Cecylia Raebiger, Leiterin der Kundenberatung. Datenschutz sei „ganz hoch angesiedelt“, Selbstauskünfte würden nicht vor einer Besichtigung verlangt.

Wie soll es dort weitergehen, wo der Markt weiter eng bleibt in Deutschland? Rudolf Stürzer, Vorsitzender Haus und Grund München, rät dem Bewerber, er solle „weder in zerrissener Hose kommen noch mit seiner Rolex rumspielen“. Wer eine Bewerbungsmappe mitbringe, zeige, dass er nichts zu verbergen habe, „ob das zulässig ist oder nicht - wenn er das ungefragt mitbringt, dann ist er einverstanden damit“.

„Es bringt wenig, wenn man den Datenschutz wie eine Monstranz vor sich herträgt“, räumt Siegmund Chychla ein, Vorstandschef des Mietervereins zu Hamburg. Aufklärung durch Behörden reicht ihm nicht. Chychla fragt nach Sanktionen. „Ich wünsche mir, dass man dagegen vorgeht, beispielsweise auf Bundesebene.“ Verbände wie Haus und Grund müssten angeschrieben, Immobilienportale sensibilisiert werden.

Dort häufen sich Wohnungsangebote, die beim ersten Kontakt Selbstauskünfte, Schufa-Auskunft und Einkommensnachweis verlangen. Die ImmobilienScout GmbH in Berlin weist die Verantwortung dafür zurück: Bei der Kontaktaufnahme sei das Unternehmen nicht involviert.

EFFIZIENZ ALS GRUND FÜR FRÜHE FRAGEN

Die Versicherungskammer Bayern begründet ihre Vorabfragen mit Effizienz. „Es ergibt keinen Sinn, Besichtigungstermine mit Interessenten zu vereinbaren und durchzuführen, die unseren Anforderungen nicht entsprechen, weshalb wir zumindest die Angaben aus der Selbstauskunft vor diesen Terminen wünschen.“ In der Auskunft werden etwa Nettoeinkommen und Zahlungsverpflichtungen abgefragt.

Wird sich am Datenstriptease bald etwas ändern? Das Landesamt für Datenschutzsicherheit in Bayern möchte eine neue Überprüfung von Maklern starten - wie 2015/16. Und die nordrhein-westfälische Datenschutzbeauftragte Block setzt auf Europa: „Ab Mai 2018 gilt neben einer Neufassung des Bundesdatenschutzgesetzes die Europäische Datenschutz-Grundverordnung.“ Sie erwarte, dass man sich dort mit dem Thema Datenschutz in der Wohnungswirtschaft auseinandersetzen werde. Wie intensiv, das sei „derzeit noch nicht abzusehen“. So werden wohl noch viele Interessenten mit dicken Mappen vor Wohnungstüren stehen. (dpa)