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Mutmaßlicher Messerstecher bricht in Tränen aus

Mediziner und Bekannte beschreiben ihn als aggressiv. Am dritten Verhandlungstag zeigt er Emotionen.

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© Archiv/Harry Härtel

Von Tina Soltysiak

Leisnig/Chemnitz. Erstmals hat der mutmaßliche Messerstecher von Leisnig bei der Verhandlung am Landgericht Chemnitz Emotionen gezeigt: Er brach in Tränen aus, als die Sprache auf seinen kleinen Bruder kam, dem er ein Vorbild sein will – was ihm aber augenscheinlich misslingt. Und auch als Elsbeth Pohl-Roux vom Verein Be-greifen in Klosterbuch ihm nach ihrer Zeugenaussage die Hand reicht, kann er die Tränen nicht zurückhalten. Einige Monate hatte der Angeklagte, der bei einer Auseinandersetzung einen Mann mit einem Messer tödlich verletzt haben soll, ab Dezember 2010 auf dem Archehof gelebt. „Er hatte Chaos in seinem Kopf, seiner Seele und seinen Händen“, sagte die 61-Jährige. Sie konkretisierte, dass der junge Mann Drohgebärden gemacht, Dinge zerschlagen habe und in eine Rangelei und Schlägerei verwickelt gewesen sei. 2011 musste der Beschuldigte schon einmal eine Haftstrafe verbüßen. Anschließend durfte er auf den Hof von Familie Pohl zurückkehren.

Mitbewohner gewürgt

Die Vereinsvorsitzende vermittelte ihn 2012 ins Berufsbildungs- und Jugendhilfezentrum Sankt Nikolaus im bayrischen Dürrlauingen, das sich um Kinder und Jugendliche mit Verhaltensproblemen und psychischen Beeinträchtigungen kümmert. Dort begann er eine Lehre als Holzbauer, schloss diese aber nicht ab. Stattdessen kassierte er eine Abmahnung, weil er versuchte, im Internat einen Mitbewohner zu würgen. „Der Angeklagte kann mit Frust nicht umgehen“, sagte Elsbeth Pohl-Roux.

Im August 2015 zog es den Mann wieder nach Leisnig. „Ich habe ihm Hofverbot erteilt, wollte die Verantwortung für ihn nicht allein tragen. Von ihm ging ein Gefährdungspotenzial aus, er war nicht mehr steuerbar“, erklärte Pohl-Roux.

Weil der Auslöser der Tat der vermeintlich unsachgemäße Umgang mit einem Hund gewesen sein soll, sagte der Hundehalter am dritten Verhandlungstag aus. „Der Umgang mit Tyson war liebevoll. Es hat gepasst, dem Tier ging es gut. Der Angeklagte war immer zuverlässig bei der Betreuung meines Hundes“, erklärte er. Auch Elsbeth Pohl-Roux attestierte dem Jugendlichen zu jeder Zeit einen guten Umgang mit den Tieren auf dem Archehof.

Am Dienstag berichteten zudem Mediziner und der Bewährungshelfer über ihre Erfahrungen mit dem Beschuldigten, der zuletzt in Leisnig wohnte. Einige von ihnen äußerten ihre Zweifel an den Erinnerungslücken, die der mittlerweile 25-Jährige immer wieder geschildert hatte. Seinen Aussagen zufolge reichten diese von einer Woche vor der Tat bis zu dem Zeitpunkt nach dem Vorfall, als er in der JVA Dresden wieder zu sich gekommen sei.

Zweifel an den Erinnerungslücken

Ronny Bayer, Facharzt für Rechtsmedizin, hatte den Angeklagten wenige Stunden nach der Tat begutachtet. Er sagte: „Er zeigte deutliche psychiatrische Auffälligkeiten. Es ist nicht eindeutig, ob diese durch Drogen verursacht wurden, er tatsächlich psychische Probleme hat oder alles nur vortäuschte.“ Bayer habe während der Lebendbegutachtung, die nur unter Polizeischutz in der Gewahrsamszelle im Polizeirevier Döbeln möglich war, eine erhebliche Persönlichkeitsveränderung festgestellt. Der Angeklagte habe sich zur Wehr gesetzt und „brabbelte unverständliche, zusammenhanglose Wortfetzen“. Er habe einen starren Blick gehabt. „Er zeigte keine Einsicht und war nicht kooperativ“, so Bayer.

Sowohl eine Sozialarbeiterin von der Betreuungsbehörde Mittweida als auch der ihm zur Seite gestellte Bewährungshelfer beschrieben den Beschuldigten als eine Person, die zur Selbstüberschätzung neigt und realitätsferne Vorstellungen hat.

Diese Einschätzung teilte Christine Wendland, Oberärztin am Fachkrankenhaus Hochweitzschen, bei der der junge Mann 2011 und 2015 in Behandlung war. Sie habe die Diagnose einer Anpassungsstörung kombiniert mit einer Persönlichkeitsstörung gestellt. Die Ärztin war es auch, die den Tatverdächtigen kurz nach der tödlichen Auseinandersetzung auf dem Leisniger Markplatz nochmals begutachtet hatte. „Ich kann mir nicht so richtig vorstellen, dass Erinnerungslücken über solch einen langen Zeitraum andauern“, sagte die Fachärztin für Psychiatrie.

In seiner ersten Vernehmung unmittelbar nach der Tat soll der Beschuldigte ein Geständnis abgelegt haben. Das erklärte Manfred Kallenbach, der an jenem Wochenende als Bereitschaftsrichter des Amtsgerichtes Chemnitz im Dienst war und mit dem Angeklagten in der Gewahrsamszelle im Döbelner Revier redete. „Der Beschuldigte sprach leise, ruhig, gefasst und ohne jegliches aggressives Verhalten. Er redete nicht viel, sagte aber: Das Opfer habe ihn angegriffen, er habe sich nur gewehrt, dass der Mann stirbt, habe er nicht gewollt.“ Kallenbach habe den Eindruck gehabt, dass der Angeklagte „recht gelöst gesprochen hatte“. Im Verlauf der Vernehmung habe sich dessen Verhalten allerdings gewandelt. Er sei nicht mehr ansprechbar gewesen, habe nicht mehr auf Nachfragen reagiert.

Umgang mit Messer geübt

Der Angeklagte hat sich am Dienstag erneut geäußert. Er gab zu, das Butterfly-Messer, die spätere Tatwaffe, selbst in Frankreich gekauft, und nicht – wie zunächst behauptet – geschenkt bekommen zu haben. Er habe den Umgang mit dem Messer geübt. „Es ist unbestritten, dass ich es am Tattag dabei gehabt haben muss. Aber weshalb und wie ich es eingesteckt habe, daran erinnere ich mich nicht“, erklärte er.