Von Peter Anderson
Meißen. Eigentlich könnte Gottfried Herrlich jetzt Zuhause in der Sonne im Liegestuhl ruhen und den Lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Stattdessen aber sitzt der 81-Jährige hier, im romantischen Laubenhof von Vincenz Richter und nippt an einem stillen und tiefen Wasser. Die beweglichen Äuglein gehen hin und her. Der Chef der Meißner Traditionsgaststätte hat wieder eine Idee. Er kann trotz des eigentlich längst erreichten Pensionsalters die Finger nicht davon lassen. Aber Herrlich weiß um seine eigenen Fehler. „Es ist manchmal ein Fluch, alles perfekt machen zu wollen“, sagt der Senior.
Diesmal geht es um das Meißner Menü, die persönliche Liebeserklärung des Gastronomen an seine Heimatstadt. Mindestens ist es das einzige Städte-Menü in Ostdeutschland, vielleicht gar in der ganzen Bundesrepublik. Wer vermag das schon so genau zu sagen? Mit der Suppe sei er mittlerweile nicht mehr so recht zufrieden. Obwohl: Den Gästen wird derzeit eine Weißweinbouillon mit Gemüse und Grießnocken serviert. Durchaus nicht von schlechten Eltern. Aber den Meister stört die Dopplung. Beschlossen wird das Menü nämlich erneut mit einer auf Wein vom familieneigenen Kapitelberg basierenden Kreation: dem Rieslingeis in der Schokoladentulpe. Dieser kleine Schönheitsfehler wird künftig behoben. Gleich zwei Süppchen – gereicht in einer aus heimischem Porzellan extra angefertigten Porzellan-Terrine – ersetzen die Vorgängerversion. Trick 17: Die Kombination einer Pastinaken- und Grünerbs-Suppe mit Rote-Beete-Schaum und Kresse stammt aus dem langsam aber sicher auslaufenden Luther-Menü zum viel strapazierten Jubiläum des Thesen-Anschlags zu Wittenberg. Im Gegensatz zu den großen Sonderausstellungen und unzähligen Veranstaltungen wird das Meißner Luther-Menü sehr gut nachgefragt. Genau deshalb soll eine seiner Komponenten das Jubiläumsjahr überleben. Der Brückenschlag zu Meißen ist nicht aus der Luft gegriffen. Schließlich war es das Meißner Kanzleideutsch, welches der Reformator mit seiner Bibel-Übersetzung zur Standardform des Deutschen machte.
Herrlich wäre nicht Herrlich, wenn er sich mit der Suche nach den passenden Zutaten für eine Suppe zufrieden geben würde. Der Senior sorgt sich um seine Stadt. „Ich muss immer gesellschaftlich denken, auch wenn das manchmal anstrengt.“ Was ihm fehlt, ist ein Rezept für Meißens Zukunft, eine Vision für die Mutter aller sächsischen Städte. Um nicht in den Verdacht zu geraten, die eigene Eitelkeit bedienen zu wollen, schlägt er eine Agenda 2029 vor. In zwölf Jahren darf Meißen das 1 100. Jubiläum seiner Gründung durch König Heinrich I. feiern. Ob er es selbst erlebe, dass die Vorhaben des Zukunftsplans Wirklichkeit würden, sei dabei nebensächlich, sagt der Vincenz-Richter-Wirt. Es gehe darum, dieses nur scheinbar entfernte Datum zum Anlass zu nehmen, die drängenden Probleme der Stadt anzupacken.
Eine Meißner Legende
Aktueller Ausgangspunkt für seinen Meißner Generalplan ist die Diskussion um den Ausbau des Plossens. Ohne sich vor den Karren irgendeiner politischen Richtung spannen lassen zu wollen, plädiert der erfahrene Gastronom dafür, die Chance des Bauvorhabens zu nutzen. „Laster müssen raus aus der Innenstadt. Das ist doch gar keine Frage“, sagt er. Mit geeigneten Mitteln sollte an der Autobahn in Wilsdruff den Fahrern klar gemacht werden, dass sie über die B 101 ihren Weg nehmen müssen, nicht aber durchs Meißner Zentrum. Den Plossen für Schwerlastverkehr zu ertüchtigen, sei völlig überflüssig, und hinausgeworfenes Geld.
Generell sieht der 81-Jährige seine Heimatstadt als unter Wert verkauft an. Das Desaster mit dem seinen Ansprüchen nicht gerecht werdenden Panorama-Aufzug würde von den Verantwortlichen einfach nur ausgesessen. Private Unternehmer hätten in so einem Fall längst die Notbremse gezogen und gehandelt. Die Neumarkt-Arkaden passten weder architektonisch noch ökonomisch zur gewachsenen Struktur der Stadt mit ihren Gassen voller kleiner Läden. Statt solche Großprojekte zu verfolgen, sollten alteingesessene Familienbetriebe unterstützt werde. Das Aus für das Ladengeschäft von Brück & Sohn auf der Burgstraße sollte ein mahnendes Menetekel sein, sagt Gottfried Herrlich.
Der Wirt lehnt sich zurück in seinem Stuhl. Ein Schluck Wasser. Am Nebentisch brechen Gäste auf in Richtung Burg. „Wussten Sie, dass die Manufaktur nach dem Auszug aus der Burg eigentlich nach Dresden sollte“, fragt der Hausherr. Doch die Meißner hätten sich damals quergestellt, hätten Weitsicht und Stärke bewiesen. Das würde er sich wieder wünschen.